"Manchmal sind auch Behinderte richtig blöd!"

Vermutlich kennen Sie Friedhelm Peiffer nicht. Sein Beruf ist es, Geld auszugeben, und zwar möglichst klug. Etwa 160 Millionen Euro muss er jedes Jahr unter die Leute bringen. Vielleicht ist auch Geld von Ihnen dabei. Dann nämlich, wenn Sie ein Los bei der Aktion Mensch gekauft haben.

Herr Peiffer denkt viel darüber nach, was gute und was weniger gute Projekte sind, um die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Denn die Erlöse der Lotterie sollen so verwendet werden, dass die Betroffenen nicht irgendwo am Rande, sondern mitten unter uns leben und arbeiten können; dass sie so frei und selbstbestimmt existieren können wie alle anderen auch. Das hat uns interessiert, und so haben wir ihn bei seinem Besuch in Fulda mit einigen Fragen gelöchert.

Friedhelm Peiffer im Gespräch mit Redaktionsmitgliedern des SeitenWechsels:

SeitenWechsel: Willkommen im SeitenWechsel, Herr Peiffer. Auch in Fulda profitieren viele Menschen von den Einnahmen, welche die Lotterie Aktion Mensch erwirtschaftet. In welchem Bereich arbeiten Sie dort genau?

Friedhelm Peiffer: Ich bin bei der Aktion Mensch der Leiter der Förderung. Ich überlege mir, was wir fördern, wen wir fördern und wie wir fördern. Wenn ich ein Projekt für gut befinde, muss ich das Kuratorium und die Mitglieder überzeugen.

Und ich muss sie davon überzeugen, dass wir uns noch stärker um Inklusion kümmern müssen. Das bedeutet auch, bestimmte Dinge nicht mehr zu fördern.

Sie haben ebenfalls ein eigenes Magazin, das Heft „Menschen“. Was ist die Zielsetzung?

Die Aktion Mensch hat eigentlich nur zwei Aufgaben. Erstens: Wir geben Geld für Projekte, damit die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung spürbar verbessert werden. Das ist der Zweck „Förderung“. Der zweite Zweck ist, dass wir die breite Bevölkerung in Deutschland über die Situation von Menschen mit Behinderung aufklären wollen. Das ist noch viel schwieriger, als gute Projekte zu machen. Wir wollen, dass die Menschen sich öffnen. Das ist ein ganz langer Prozess, bis in Deutschland alle bereit sind zu sagen: Ja, ich möchte, dass Menschen mit Behinderung meine Nachbarn, meine Arbeitskollegen sind; ja, ich möchte mit ihnen meine Freizeit verbringen. Das hört sich so schlicht an, aber das ist das schwerste aller Themen, weil es da um persönliche Einstellungen geht. Und Einstellungen zu verändern ist sehr schwierig, das merke ich bei mir selbst übrigens auch. So, und unser Heft ist eine Methode, wie Sie das mit Ihrem Magazin „SeitenWechsel“ auch machen, darüber zu erzählen, was es Interessantes zum Thema „Menschen mit Behinderung“ gibt. Wie alle anderen Zeitungen auch versuchen wir, die Menschen zu erreichen und ihnen tolle Dinge zu erzählen. Denn wenn sie das nicht erfahren, werden sie auch ihre Meinung nicht ändern.

Warum hat man die Aktion Sorgenkind in Aktion Mensch umbenannt?

Es ist so, dass die Aktion Sorgenkind 1964 auf Initiative des ZDF gegründet wurde. Damals war der Begriff Sorgenkind sehr positiv gemeint. Da hat niemand ein Störgefühl gehabt und gedacht: Das ist aber ein schlechter Begriff! Wir Mitarbeiter waren dann aber der Meinung, dass wir das ändern müssen, weil Menschen mit Behinderung ja nicht nur Sorgen bereiten. Es sind Menschen, die Spaß haben, die eine Qualität haben. Und deshalb sagen wir jetzt: Mensch zuerst! Jeder ist zuerst Mensch und in zweiter Linie schwarz oder weiß, Mann oder Frau, in Deutschland geboren oder nicht. Deswegen heißen wir seit dem Jahr 2000 Aktion Mensch. Die große Herausforderung war: Wie schafft man es, mit einem neuen Namen zu sagen, wofür man steht? Wie findet man einen Begriff, der dazu führt, dass die Menschen verstehen: Aha, die sind das! Denn es ist für eine große Organisation, die eine lange und erfolgreiche Geschichte hat, sehr wichtig, dass die Erinnerung daran nicht verlorengeht.

Es gab damals Befürchtungen, dass durch die Namensänderung die Zuwendungen einbrechen. Ist das geschehen?

Nein, definitiv nicht. Es gab auch sehr große Befürchtungen, dass niemand versteht, dass Aktion Mensch der neue Name der Aktion Sorgenkind ist. Wir haben ca. 20 Protestbriefe bekommen. Das ist aber sehr wenig. Überwiegend von Eltern, die gesagt haben: Wir haben doch unsere Sorgenkinder immer noch. Warum versteckt ihr die? Bei „Mensch“ versteht doch niemand, dass es um Behinderung geht. Da haben wir gesagt: Das sind aber zuallererst Menschen.

Wenn Sie Projekte fördern, fördern sie ja den Aufbau von Strukturen. Uns fällt in diesem Zusammenhang auf, dass es immer leichter ist, Geld für Steine und Zement zu bekommen als für Leistungen, die von konkreten Menschen erbracht wird. Ein Beispiel: Es sollen in einem großen Gruppenraum Wände eingezogen werden, damit die Bewohner mehr Privatsphäre haben. Das ist leicht zu finanzieren. Schwer ist es, den Mehraufwand an Betreuung zu finanzieren, der dadurch entsteht, dass nun nicht mehr ein Betreuer allein eine große Gruppe überblicken kann. Wie schaffen Sie es, die Gelder am richtigen Ort zu platzieren und nicht aufs falsche Pferd zu setzen?

Die Aktion Mensch hat schon Fehler gemacht. Ohne zu streng zu sein, würde ich sagen, wir waren auch mal ein Teil des Problems, insofern wir Aussonderung mitfinanziert haben. Ja, wie machen wir das heute? Erstens: Als eine private Förderorganisation prüfen wir zunächst, was der Staat bezahlen muss. Er muss das bezahlen, was im Gesetz steht. Von daher schauen wir vorrangig dorthin, wo Organisationen sich neu ausrichten, sich öffnen und neue Wege gehen wollen. Da werden wir am dringendsten gebraucht. Deshalb haben wir die Förderung von klassischen Einrichtungen reduziert. Wir fördern viel mehr einzelne Projekte als früher, wobei es gar nicht einfach zu beurteilen ist, ob ein bestimmtes Projekt in Fulda oder Kiel auch wirklich gut ist. Da leben wir mit einem gewissen Risiko. Auf der anderen Seite haben viele Träger Schwierigkeiten, aus eigener Kraft ihre Qualität zu verbessern. Da können wir helfen. Man muss sich mal vorstellen, dass in unserem reichen Land immer noch nicht alle Menschen mit Behinderung ein Einzelzimmer haben! Das ist kaum zu verstehen, denn es geht da ja um lebenslanges Wohnen.

Sie stellen verstärkt dafür Gelder zur Verfügung, dass Menschen die Heime verlassen und sich wieder unters Volk mischen können. Glauben Sie, dass das in allen Fällen funktioniert?

Die Frage nach Fällen, wo sehr schwere Behinderungen vorliegen, ist objektiv schwierig zu lösen, weil sie einen sehr hohen Unterstützungsbedarf haben. Andererseits stecken wir noch in den Anfängen. Wir sollten einfach mutig draufzugehen. Ich glaube, dass viel mehr Menschen mit Behinderungen selbstständig leben können, als sie das im Moment tun. Wir sollten ihnen mehr zutrauen.

Grundsätzlich ist es uns sehr wichtig, dass die Hilfe zu den Menschen kommt, und nicht, dass der Mensch zu der Einrichtung kommen muss. Deswegen fördern wir ganz stark ambulant betreutes Wohnen, den Aufbau von Assistenzdiensten, Mobilitätshilfen usw. Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen, nicht die Einrichtung. Menschen mit Behinderung sollten verstärkt in den  Innenstädten leben. Nicht draußen, wo sie niemand sieht, sondern mitten in Bonn, Fulda oder Frankfurt. Deshalb muss es Unterstützungsleistungen vor Ort geben: ambulante Dienste mit Nachtbereitschaft, Rufbereitschaft. Der Mensch mit Behinderung ist Kunde.

Das setzt natürlich voraus, dass er vor Ort auch auf ein waches Umfeld trifft, auf Nachbarn, die auch mal fragen: „Kann ich Ihnen helfen?“

Das wurde ich eben auf dem Bahnhof auch gefragt. Da wusste ich im Moment nicht, wo es langgeht, da hat jemand gefragt, ob er mir helfen könne. Ist mir lange nicht passiert, aber offenkundig sah ich etwas hilflos aus. Ich glaube, das Wichtigste an der Inklusion ist, dass alle Menschen wieder miteinander in Berührung kommen. Wir sind ein Land mit hoher Spezialisierung und haben eine unglaubliche Qualität in der Behindertenhilfe in Deutschland. Aber wir haben auch eine starke Separierung: Menschen mit Behinderung sind zu sehr für sich. Deswegen ist es das Wichtigste, Menschen mit Behinderung in Kontakt zu Menschen ohne Behinderung zu bringen. Inklusion ist zuerst eine Haltungsfrage. Wenn es keinen Kontakt gibt von Menschen mit und ohne Behinderungen, kommen wir nicht weiter. Das haben wir in unserem Land – aber auch in anderen – schon öfter erlebt: Wer mit Ausländern keinen Kontakt hat, baut Vorurteile auf. Wo wir einander nicht kennen, kommen wir nicht weiter. Durch die hohe Spezialisierung in der Behindertenhilfe ist der Kontakt verloren gegangen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Das ist in Amerika völlig anders.

Inwiefern? 

Dort ist es eine größere Selbstverständlichkeit, dass Menschen mit Behinderung überall dort sind, wo alle anderen auch sind. Das Maß der Fürsorge und der Spezialisierungsgrad sind da nicht so hoch. Unsere Werkstätten haben viele positive Effekte, keine Frage, aber je mehr wir spezialisieren, desto mehr sondern wir aus. Ich werde manchmal gefragt, ob nicht das größte Problem bei der Inklusion die Barrieren sind, also dass Schüler mit Behinderung nicht auf die Toilette kommen oder in den Klassenraum. Ich sage: Das Schwerste ist die Einstellung. Kann und will sich jeder ein solches unverkrampftes Miteinander in Deutschland vorstellen? Hat er irgendwie ein Bild davon, ein Gefühl dafür? Das ist eine zutiefst emotionale Frage.

Warum sind solche Begegnungen manchmal so schwierig?

Ich glaube, dass viele Menschen Angst davor haben, einem Menschen mit Behinderung zu begegnen. Es gibt auch eine große Angst vor Menschen mit psychischen Behinderungen, weil sie manchmal, je nachdem, wie es ihnen geht, ein bisschen unberechenbar sind. Ich erlebe das in unserem Betrieb auch. Unsicherheiten entstehen schnell. Ich habe z.B. einen Kollegen, der ist Contergan- Betroffener. Am ersten Tag entstand das Problem: Wie gebe ich dem jetzt die Hand? Will der das eigentlich? Ich habe einfach vergessen, ihn zu fragen. Hätte ich tun sollen. Man macht Fehler. 

Das ist auch nicht einfach, denn es gibt ja auch Menschen mit Behinderungen, die auf gut gemeinte Hilfsangebote äußerst unfreundlich und schroff reagieren. 

Ich finde, da muss man nicht unfreundlich sein. Ich finde es erst einmal nett, wenn jemand Hilfe anbietet, auch wenn das nicht jeder richtig macht. Mein Gott, man muss sich auch mal ein bisschen entspannen! Wir sind manchmal schwer ideologisch. Alles muss gleich absolut perfekt sein. Ich bin in Grevenbroich geboren an der holländischen Grenze. Der Holländer ist da viel pragmatischer, unkomplizierter. Warum soll man wütend werden, wenn jemand Hilfe anbietet? Behinderte sind auch nicht immer nur nett, manchmal sind sie sogar richtig blöd ...

… vielleicht sollten wir das wirklich einmal so hinschreiben

… ja, ist doch so! Menschen sind blöd oder nicht blöd, unabhängig davon, ob sie behindert sind
oder nicht. Das hat erst mal nichts miteinander zu tun.

Ich habe einmal mit einem Professor über Selbstbestimmung gesprochen. Da hat er gesagt: „Wissen Sie, was Selbstbestimmung ist? Sich die Bildzeitung, ’ne Schachtel HB und ’ne Pulle Bier kaufen zu können. Das ist Selbstbestimmung.“ Da ist was dran, oder?

Stimmt! Wenn wir von Selbstbestimmung reden, haben wir oft eine überladene, fast feierliche Vorstellung davon.

Ja, das ist so zwanghaft. Behinderten darf ja auch nichts passieren, die dürfen niemals scheitern, niemals. Ich darf scheitern, Sie dürfen das auch. Aber Behinderten darf nichts passieren, die dürfen keinen Alkohol trinken, die dürfen keinen Sex haben. Wehe, mit der Schule geht etwas schief, um Gottes willen! Diese übertriebene Vorsicht!

…mit überregionaler Anerkennung

Ein bisschen stolz sind wir schon: Die Aktion Mensch hat unser SeitenWechsel-Magazin unterstützt. Im jetzt erschienenen Jahresbericht 2012 wird unser Heft als ein „innovatives Medienprojekt" gewürdigt (nachzulesen unter: www.aktion-mensch.de).

Die Tatsache, dass Menschen mit und ohne Behinderung zusammen Zeitung machen, hat die Leute von der Lotterie beeindruckt. Denn das gibt es in Deutschland gar nicht oft. Leider.

„Wir engagieren uns für eine Gesellschaft, in der Unterschiede normal sind“, sagt Armin v. Buttlar, Aktion-Mensch-Vorstand. Genau das wollen wir mit unserem Magazin auch.

Vielen Dank, Aktion Mensch!

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