Martin Angelstein: "Man ist schon ein bisschen besessen"

Wer Martin Angelstein sieht, wird ihn nicht für einen Sportler halten. Doch der Macher von Osthessen-News ist ein
dynamischer Mann. Es wird erzählt, dass er mit halbfertiger Frisur aus dem Salon gerannt ist, weil eine Scheune brannte.

Erster sein, hochaktuell sein, darauf kommt es an im Nachrichtengeschäft.

Zwischen 50.000 und 70.000 Menschen besuchen täglich sein regionales Nachrichtenportal im Internet. Sie erwarten, schon kurz nach einem Ereignis mit Bildern und Texten gefüttert zu werden.

Martin Angelstein sucht nach immer neuen Wegen, um diesen – manchmal übermäßigen – Informationshunger zu stillen. Viele Osthessen kennen das Gesicht dieses rastlosen Ur-Fuldaers.

Meist hält er jemandem gerade ein Mikrofon unter die Nase. Da haben wir uns gedacht: Drehen wir den Spieß doch mal um!

SeitenWechsel: Herr Angelstein, was treibt Sie zur Nachricht? Eine Mitarbeiterin hat gesagt, Sie seien ein Nachrichten-Junkie ...

Martin Angelstein: Nachrichten sind für mich wichtig. Ich sehe das als Service. Die Leser erwarten etwas. Manchmal sind die Erwartungen zu hoch, wenn Leute sich beschweren, warum etwas nicht erscheint. Für Fernsehen und Zeitung müssen sie jeden Monat etwas bezahlen. Bei uns kriegen sie das umsonst, und wir bemühen uns, gut zu sein. Das ist der Ansporn. Vielleicht ist es aber auch ein Stück Berufung. Man muss schon eine Art Junkie sein – wenn’s nicht so negativ klänge. Man ist ein bisschen besessen, will der Erste sein, der Schnellste, ähnlich wie ein Sportler. Die Leute wollen drüber reden. Und die neue Technik macht es möglich.

Das ist aber auch eine Last, oder?

Das war schon immer so: Technik löst Probleme, löst aber zugleich noch viel mehr Druck aus. Ich habe das in mehreren Stufen beim Fernsehen erlebt. Man kennt die Möglichkeiten, und dann kommt es drauf an: Mache ich es, oder mache ich es nicht? Ich sage heute immer noch: „Das geht, also machen wir’s!“ So haben wir unser Nachrichtengeschäft immer vorangetrieben. Andere setzen sich in dem Alter zur Ruhe und wollen nichts mehr vom Internet wissen ...

Sie sind aber ein Mensch, der nicht angestrengt wirkt ...

Mein Spruch, den jeder kennt, lautet: „In der Ruhe liegt die Kraft.“ Ich kann natürlich auch sehr hektisch werden.

Wie wichtig ist das Blaulicht für die Popularität des Portals?

Wir bilden Realität ab. Wenn Fastnacht ist, ist der Schwerpunkt bei Fastnacht. Wenn Unfälle sind, sind halt Unfälle. Ich kann sie nicht wegzaubern oder verhindern. Auf der anderen Seite ist das etwas, das die Leute interessiert. Wir sehen ja, wie die Klickzahlen steigen, innerhalb von einer Stunde vier-, fünftausend Klicks. Die Leute sind neugierig. Die Erwartungshaltung ist unglaublich gewachsen. Da fliegt ein Hubschrauber, und schon rufen die Leute an und fragen: „Warum fliegt der da?“ Oder: „Heute morgen war ein Polizeieinsatz; warum steht bei euch noch nichts drin?“ Es gibt einen Scherz: Wenn die im Krankenhaus wissen wollen, wie viele Verletzte kommen, gucken sie bei „Osthessen-News“. Im übertragenen Sinn natürlich. Also: Ich kann es nicht ändern, wenn ein Thema die Leute besonders interessiert.

Aber muss man, wenn ein schwerer Unfall passiert, Stunden später noch mal einen Fotografen hinschicken, der den Abtransport der Leichen dokumentiert?

Wir hatten vor einem halben Jahr mit einer Feuerwehr des Landkreises einen Streit. Uns wurde vorgeworfen, Leichen zu filmen. Das haben wir nie gemacht. Es ist auch nie eine Leiche gezeigt worden. Man muss auch unterscheiden zwischen dem, was ich aufnehme, und dem, was ich veröffentliche. Entscheidend ist: Wenn zwei Kamera-Teams bei schweren Unfällen zugegen sind, wird das Material desjenigen Teams genommen, das bleibt, bis die Pietät da war. Vor fünfzehn Jahren war der Sarg noch ein Tabu, heute gehört er dazu. Wir leben in Konkurrenz. Es fragt ja keiner: Wie überleben die? Wir bekommen keine Spenden. Wir leben vom Verkauf von Material und überwiegend von der Werbung. Und bei der Werbung zählt, wie viele Leute sich die Seite anschauen.

Wenn Sie selbst die Ausrichtung Ihres Portals beschreiben müssten, was würden Sie sagen? Die Wirklichkeit abzubilden ist ja nur die eine Sache ...

Ja, aber was wollen Sie mehr, als genau das zu versuchen: die Realität, so gut es geht, abzubilden? Vieles von dem, was passiert, lässt sich nicht abbilden, weil man nicht an Material herankommt. Es gibt den Satz, dass nur 1 % von dem, was passiert, in den Medien steht. Viele glauben: Wenn’s nicht in der Zeitung steht, hat es nicht stattgefunden. ON ist inzwischen ein sehr breites Portal geworden. Wir gehen nicht nur danach, was die meisten Klicks bringt. Dann würden wir nur über Unfälle oder verrückte Geschichten berichten. Zum Leben einer Region gehören viele andere Dinge. Wir bringen Meldungen aus Gesellschaft, Kultur und Kirche. Die bringen nur einen Bruchteil von einer Blaulicht-Meldung, aber nach meinem Verständnis gehören sie dazu. Oft hören wir: „Das liest doch keiner!“ Aber manchmal sind zweihundert Klicks wichtiger als eine Meldung, die Zehntausende anklicken, weil es vielleicht Leute aus Wirtschaft und Kultur lesen. Beides muss man machen. Die Region ist dabei Fluch und Segen zugleich. Wir haben mit vier Landkreisen ein sehr großes Einzugsgebiet. Man muss versuchen, Geschichten zu finden, die vieleinteressieren. Bei ca. fünfhundert E-Mails, die wir täglich bekommen, ist das Auswerten außerordentlich schwierig.

Weil Sie gerade die Kirche ansprechen: Uns scheint, dass „Osthessen-News“ recht ausführlich über kirchliche Themen berichtet.

Wir versuchen, eine ausgewogene Berichterstattung zu machen. Kirche von heute, ganz gleich ob evangelisch oder katholisch (wir haben auch schon über Islam und Judentum in Fulda berichtet), ist immer noch dominant. Sie wird zu schnell auf die Seite geschoben. Ich würde sicher kein Kirchenverdienstkreuz kriegen, aber ich finde, das gehört dazu. Es wird zu schnell gesagt: „Kirche brauchen wir nicht!“ Aber es gibt eine Menge Leute, die das lesen wollen. Ich glaube nicht, dass mein Handeln dadurch geprägt ist, dass ich Messdiener war. Ich sag mir nur: Wenn wir’s nicht machen, macht es niemand. Kirche ist ein wesentlicher Teil unseres Lebens. Wir haben aber auch kirchenkritische Sachen drin.

Führt die reine Werbefinanzierung zu Konflikten, etwa wenn Werbekunden von einem Skandal betroffen sind?

Wir haben mit Werbekunden vertraglich vereinbart, dass die Redaktion vollkommen unabhängig arbeitet. Wir haben das auch schon durchgezogen. Als es einmal Probleme gab, habe ich gesagt: „Leute, wenn wir über etwas nicht berichten, weil ihr Werbekunde seid, sind wir unten durch, und euer Geld ist nicht mehr gut angelegt. Ihr müsst aushalten, dass mal Kritik kommt.“ Ganz wichtig ist Glaubwürdigkeit.

„Zwei Wochen Urlaub im Süden am Meer sind für Martin Angelstein genauso, wie die Zeit in einem Straflager zu verbringen.“ Richtig?

Nicht mehr. Es gab ja vor zweieinhalb Jahren einen entscheidenden Einschnitt. Das ist nicht einfach, auch wenn man glaubt, darüber hinwegzukommen. Man wird jeden Tag mit dem Verlust des Partners konfrontiert. Nicht nur im Privaten, sondern auch beruflich. Es berührt einen oftmals und mehr, als man denkt. Oft denke ich: Was würde Gabriele dazu sagen? Wie würde sie darüber denken, wenn wir so oder so entscheiden? Das fehlt wahnsinnig. Ich kann’s aber auch nicht ändern. Das Leben geht weiter. Auch „Osthessen-News“ geht weiter. Das Portal ernährt inzwischen zwanzig Mitarbeiter, darunter allein sechs Azubis. Aber ich habe mich aus bestimmten Dingen zurückgezogen, obwohl ich schon noch mit der Kamera losziehe.

„Osthessen-News“ ist ein durch Sie am Leben gehaltenes Projekt. Kann man sich das ohne Martin Angelstein überhaupt vorstellen?

Ganz schwierig. Der oder die Nachfolger werden sich hineinknien müssen. Man macht sich permanent Gedanken: Warum ist bei der Meldung kein Foto? Warum ist das nicht Topthema? Warum lag das so lange im Posteingang? Ich hoffe, das möglichst lange machen zu können, auch wenn ich in zwei Jahren das Rentenalter erreiche. Ich fühle mich nicht als Rentner. Beschränken kann einen nur die Gesundheit. Obwohl ich das Nachrichtengeschäft seit über 40 Jahren betreibe, macht es enorm viel Spaß. Das ist mein Lebenselixier. Wenn irgendeine Geschichte ist, bin ich immer dabei. Was soll ich vierzehn Tage irgendwohin fahren? Ich begreife Arbeit nicht als Arbeit. Ich glaube auch, dass Leute in der Lage sind, das Engagement zu würdigen. Ja, der Junkie – das ist zwar ein Wort, das mir nicht so gefällt. Aber es ist schon ein Jagdtrieb, immer auf der Suche nach der Neuigkeit. Weil es Spaß macht, sie im eigenen Medium veröffentlichen zu können. Damit kehre ich ja an die Wurzel zurück, warum wir das gemacht haben. Es gibt kaum noch regionale Medien. Das Internet hat dazu geführt, dass solche Medien wieder entstehen konnten, und je nachdem, mit welchem Aufwand man das macht, haben sie Erfolg.

Wirtschaftlichen Erfolg?

Wir haben auf Facebook jetzt 8.500 Fans – nicht gekauft, wohlgemerkt! Mit unserem Elan und unserer Aktualität haben wir ein gutes Standing. Natürlich sind wir stolz, dass wir davon leben können. Nicht in Saus und Braus. Man kann keine Reichtümer verdienen. Man könnte vielleicht sagen: Der Reichtum sind die Arbeitsplätze.

Gibt es einen moralischen Aspekt beim Nachrichtenmachen?

Ja, aber nicht als programmatischen Punkt, sondern mehr vom gesunden Menschenverstand her, dass diese oder jene Nachricht einem Nachrichtenportal guttut. Manche sagen: „Bei euch ist ja nur Blut, Mord und Totschlag.“ Wir können nachweisen, dass wir auch viele andere Themen haben.

Auch soziale Themen?

Klar, das ist sehr wichtig. Man muss auch über Behinderung, Inklusion usw. eigens berichten, damit das nicht in der allgemeinen Berichterstattung untergeht. Vielleicht haben wir ein Faible für Gruppen, die in der breiten Öffentlichkeit leicht untergebuttert werden. Deswegen sind wir häufig bei solchen Terminen dabei. Verantwortung eben. Man muss da nichts Programmatisches sagen. Nicht umsonst haben wir auf unserer Seite stehen: „Ein Projekt von unabhängigen Journalisten.“

Was sagt das genau?

Was hier vor Ort passiert, interessiert nicht mehr in den Metropolen. Da wird nach anderen Kriterien ausgewählt. Hier bestimmen wir selbst, was veröffentlicht wird. Wir sind sozusagen moderne Verleger, die sich moderner Technik bedienen, um Öffentlichkeit für etwas auf verantwortliche Weise herzustellen.

Herr Angelstein, das war jetzt sehr viel Text, da werden wir aber kürzen müssen ...

Ich beneide Sie nicht darum. Das macht mir sogar mal Spaß: Wenn ich jetzt heimgehe, habe ich das Thema erledigt. Jetzt geht es Ihnen wie mir, dass die eigentliche Arbeit nach dem Interview erst losgeht.

Dann haben wir Sie auch in diesem Sinne zu einem Seitenwechsel eingeladen. Danke, dass Sie mitgemacht haben!

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