Mit dem Smartphone auf dem Segelschiff

Von Arnulf Müller, Fotos: Arnulf Müller

„Heh!“ Ein scharfer Warnruf reißt die Crew aus dem Dämmerzustand der Mittagsflaute. Wir fahren unter Motor auf einem gefühlt menschenleeren Küstenabschnitt. Freizeitkapitän Marc sitzt am Ruder, doch den monotonen Dienst des Kurshaltens verrichtet der Autopilot. Zeit für eine Short Message an die Gemahlin, die sich unter der Hand zu einer Long Message ausweitet – nicht wegen der Textlänge, sondern wegen der allzu kleinen Tasten seines Organizers. Im letzten Moment gelingt es, das Ruder herumzureißen und die Kollision mit einem griechischen Fischer zu verhindern.

 

 

Das Aufkommen der mobilen Kommunikation hat unsere Segelreisen verändert. Nicht nur wegen solcher Kapriolen wie hier im Jahr 2007. Es hat das Reisen verändert, das Wie unseres Vor-Ort-Seins. Die Zeit, in der man den Daheimgebliebenen lediglich einen Pflichtanruf per Münzfernsprecher schuldete - „Ruf kurz durch, dass ihr gut angekommen seid!“ - ist vorbei. Lag damals der Hörer erst wieder auf der Gabel, durchströmte einen das unbändige Gefühl von Freiheit. Mit dem Lösen der Leinen wurde die Verbindung mit allem gekappt, was einen festhielt oder beschwerte. Wenn nach zwei Stunden unter geblähten Segeln der Landstrich im Rücken nur noch schemenhaft zu erkennen war und die steife Brise einem den Wirrwarr aus dem Hirn geblasen hatte, wummerte die Existenz im neuen Modus: zwei Wochen lang nur Boot, Inseln, Freunde. Gegenwart satt. 

Natürlich gab es Gründe, die Technologien aufzugreifen: Gebuchte Wetter-SMS aufs Handy, dreimal täglich – ein Plus in Sachen Sicherheit. Im Notfall Hilfe organisieren zu können, wenn das Funkgerät streiken sollte. Oder später: hilfreiche Segler-Apps griffbereit in der Hosentasche. Aber da Kommunikationstechnologien wechselseitig funktionieren, kam mit Macht immer öfter das zu uns zurück, was wir gerne hinter uns gelassen hätten.

Crewmitglied Jörg war eines der ersten Opfer. Mit einem Katamaran hatten wir uns 2001 von Barcelona Richtung Menorca aufgemacht. Unser erster Nachtschlag. Aufgewühlt überwachten wir das Radar und deuteten die Lichtsignale der Frachtschiffe in der Ferne. An Schlaf dachte niemand. Vom Segeln bei Vollmond und von der Weite des Meeres euphorisiert – und mit zunehmenden Meilen im Kielwasser auch leicht beschwipst – wurde zu Gitarre und Akkordeon gegriffen. Die herrlich gelöste Stimmung wurde jäh zerstört, als  der berühmte Nokia-Klingelton Jörg aus der Runde riss. Als leitender Journalist besaß er ein Diensthandy und über dessen Nummer verfügte auch seine damalige Herzdame. Die Krise schwelte schon länger und als er von Deck in den Salon zurückkehrte, war klar, dass dies der finale Anruf war. Wir anderen witzelten verlegen, aber der Verlust vom Jetzt und Hier war nicht rückgängig zu machen. Der Anruf verwandelte den Schiffssalon in eine Ausnüchterungszelle. Warum sie ihren Entschluss in seinen Urlaub hinein und übers Handy mitteilen musste, blieb ihr Geheimnis. Vielleicht, weil‘s so schön bequem war.

Im Urlaub standby zu sein, war damals hipp. Man konnte sich bedeutend fühlen, wichtige Entscheidungen der Firma von der Ankerbucht aus zu beeinflussen. Wie sehr es umgekehrt die Fähigkeit aufzehrte, sich auf diesen Ort einzulassen, war damals noch kaum spürbar. Aber man konnte registrieren, wie mit jedem Anruf die beruflichen Dinge Thema wurden. Die spektakuläre Felsküste von Amorgos rauschte an uns vorbei, aber wir waren beim „völlig unfähigen Kollegen“ daheim und überhaupt bei dem „Scheißladen“. Zugleich wurde es von Törn zu Törn wichtiger, möglichst oft Empfang und später Internet zu haben.

 

 

 

Mit der Entwicklung von Smartphone und Auslands-Flat wandelten sich die E-Spielzeuge endgültig zum emotionalen Stabilisator des urlaubenden Selbst. Weil auch im Mittelmeer der Seegang ruppig und der Himmel fahl sein kann und weil das Stimmungsbarometer jeder Crew auch mal auf Flaute steht, boten sie immer öfter ein bequemes Schlupfloch zurück in die vertraute, sich stets sicher anfühlende Info-Welt: Spiegel-Online, Osthessen-News, „Wie hat Flieden gespielt?“ Wo früher aufkommende Langeweile in Aktion verwandelt wurde – mit dem Schlauchboot um den kleinen Felsen oder mit dem Leih-Roller über die Insel – saßen jetzt die Leiber mit gebeugtem Haupt im Cockpit und grummelten einander Angelesenes zu.

Wie sehr die neue Kommunikation Besitz von uns ergriffen hatte, offenbarte sich 2015, als sich das Crewmitglied Hannes dreimal bei der PIN-Eingabe vertippte. Wir weilten auf der abgelegenen Insel Kasos, die nicht gerade Heimeligkeit verströmt. Um so härter traf ihn die Informationsblockade. Sogleich lieh er sich ein Telefon, um seine Frau anzurufen, damit sie die PUK suchen konnte, die zur Entsperrung nötig war. Da sie nicht ans Telefon ging, wurde die Frau eines anderen Crewmitgliedes beauftragt, dort vorbeizufahren. Nach kurzer Suche fand die Ehefrau die PUK im Schreibtisch ihres Mannes. Leider handelte es sich um die seines Dienst-, nicht seines Privathandys. Erneut musste die Frau des anderen Crewmitgliedes bei seiner Frau vorbeifahren, intensiver wurde das Büro auf den Kopf gestellt. Endlich wurde die richtige PUK in einem dicken Ordner gefunden und konnte zum griechischen Inselhafen übermittelt werden.

Der Prozess zur Wiederbelebung seines Samsung S4 erstreckte sich über zwei Tage, doch schon bald offenbarte sich, wie segensreich die Re-Installation für alle war: Hannes surfte selig durch seine Lieblingsseiten und blieb auf dem Portal „Trauer36.de“ hängen. Die Namen der in der Heimat Verstorbenen wurden während des Bordfrühstücks verlesen, und tatsächlich kannten mehrere Crewmitglieder zwei der Verblichenen. „Mit dem hast Du doch Fußball gespielt“ – „Der war doch höchstens fünfzig!“ Mittelstarke Betroffenheit machte sich breit.

Weiter ging‘s, Anker auf! Genua und Groß standen im zweiten Reff bei flottem Amwindkurs, doch die Gedanken kreisten nicht um das nächste Törnziel oder die Wetterlage, sondern um die frisch Verstorbenen zu Hause, um Fliedens derzeitigen Trainer, und irgendwie hockten auch Erdogan und Kim Jong-un mit uns in der Plicht.

Weil es auf Reisen kein Vergessen mehr gibt, kein heilsames, temporäres Vergessen, weil die gewohnten Dinge nicht mehr in die Ferne rücken können und dürfen, gibt es weniger freien Raum für neue Erfahrungen. Wo pausenlos der ewige Nachrichtenmüll hervorgezerrt wird, wo man glaubt, den Abstand zu den Seinen permanent überbrücken zu müssen, ist die Seele blockiert. Reisen verkommt zum Urlaub.

Ein Seemann, der früher auf große Fahrt ging, hatte die Seinen im Herzen. Doch er vergaß sie auch bis zu einem gewissen Grade. Neugierig ließ er sich von Menschen und Situationen mitreißen, die ihm das Schicksal in fernen Häfen entgegenwehte. Und wenn er nach Monaten wieder in den Heimathafen einlief, war das Alte für ihn etwas Fremdgewordenes, etwas, das nun ebenso lustvoll wieder erkundet werden wollte. Was hatte sich verändert? Wie geht es diesem oder jenem? Was wird sich ereignen? Wenn heute ein Seemann nach Hause kommt, ist alles in Wort und Bild ausgetauscht. Als wäre er nie weg gewesen.

Tagsüber Firmenkontakte pflegen, …

 

… abends die Highlights des Tages an Freunde senden

 

 

 

 

Den ultimativen Todesstoß gegen jenes produktive Vergessen vollzogen unsere fleißgen Ingenieure, indem sie kleine Fotolinsen in Mobiltelephone einbauten. Das hatte den Nachteil, dass die hochwertige Spiegelreflex oft zu Hause blieb. Dafür gelingt es seit dem auch den schreibfaulsten Individuen, mit wenigen Bewegungen des Daumens die eigene Befindlichkeit einer nicht mitgereisten Mitwelt unter die Nase zu halten. Und umgekehrt dafür zur sorgen, dass man selbst nie in Vergessenheit gerät. In Echtzeit werden die stärksten Wellen gepostet, damit auch Empfänger mit schwächerer Vorstellungskraft einen Begriff davon bekommen, welch tollkühner Hecht hier on Tour ist.

„Du verstehst es, <Habenwollen> zu erzeugen“, postete ein Empfänger zurück, als er vom Crewmitglied Carsten mit Postkartenmotiven überschüttet wurde. Das trifft es: Andere sollen wollen, was wir schon haben. Man will sie mit ins Boot holen – natürlich nur virtuell. Und als Dank, dass man so intensiv an sie denkt, spenden sie reichlich Applaus. So folgt dem Bilderzirkus einer kaum enden wollende Kommunikationsschleife mit permanentem Tüteltü.

Für uns Menschen des 21. Jahrhunderts ist es wichtig, dass sich unser Leben unter den Augen von anderen vollzieht. Permanent versuchen wir, das Bild, das sie von uns haben, zu beeinflussen. Vielleicht, weil wir unser eigenes Selbst immer mehr mit einem Bild davon verwechseln.

Als die Segelikone Wilfried Erdmann in einer 343 Tage dauernden Nonstopfahrt die Erde umrundete, hatte er ein Satellitentelefon dabei, welches er alle paar Wochen umständlich aufbaute, um mit seiner Frau zu sprechen. Meist endeten die Gespräche im emotionalen Fiasko, weil die Welten, in denen sich beide aufhielten, zu unterschiedlich waren. Warum er sich bei seinen Extremreisen so wenig der Öffentlichkeit mitgeteilt habe, wurde er unlängst von einem Redakteur gefragt. „Ich habe es nur für mich gemacht“, war seine Antwort. Nur für mich, das klingt egoistisch, doch es ist ein Ausdruck von Bescheidenheit. Erfahrungen bekommen Tiefe und Gewicht, wenn man sie nicht gleich mitteilt, wenn sie in einem Menschen reifen können. Am Ende hat man dann auch mehr zu erzählen.

Als Kinder unserer Zeit sind wir unheilbar von den neuen Medien angefixt. Doch immer öfter wünscht man sich den Münzfernsprecher zurück, der in einem kleinen Häuschen hängt, das auf einer Betonplatte an Land festgeschraubt ist. Und der einem beim Auflegen des Hörers den ultimativen Freispruch erteilt. Zumindest für zwei Wochen.

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