Pioniere aus der Nachbarschaft

Ein Gleitschirmflieger, ein Ehepaar, ein Kaffeeröster und ein Autofahrer bilden von Haus aus noch keine Gruppe. Dennoch gibt es etwas, das sie verbindet: Sie sind allesamt Vorreiter.

Ulrich Kroll

Ulrich Kroll

 

 

„Was willst du mit dem Fetzen?“

 

Es gibt tollere Fotos. Ein Gleitschirm, der vom Pferdskopf fliegt, das ist inzwischen so aufregend wie ein Bild von einem Ruderboot auf dem Edersee. Allerdings dokumentiert dieses Foto den ersten Flug mit solch einem Nylonschirm in Deutschland im Sommer 1986. An den Schnüren hängt Drachenfluglehrer und Windmühlenwirt Ulrich Kroll – müde belächelt von seinen Fliegerkollegen.

Die Begriffe „Pionier“ und „Luftfahrt“ gehören irgendwie zusammen, erst recht in der Rhön. Natürlich war bereits das Drachenfliegen Ende der 70er eine kühne Sache. Unvergessen ist die Geschichte, als die ersten Rhöner Piloten bei einem Rechtsanwalt in Fulda vorstellig wurden, um einen Drachenflugverein zu gründen. Dieser nahm den Antrag wohlwollend auf – allerdings im Glauben, es handele sich um einen Verein für Väter und deren Kinder, die bunte Drachen hinter sich herziehen wollten. Die Ersten haben es nie leicht.

1986 dann wieder so ein Ding. Als Kroll, der mit einem Kollegen in Sieblos die Flugschule Papillon betreibt, mal wieder in Österreich Schulungen abhält, zeigt ihm ein Freund das Neueste vom Neuen: Ein in Frankreich hergestelltes Gleitsegel, das nicht mehr nur ein Fallschirm ist, sondern ein Sportgerät, mit dem man selbständig vom Berghang starten kann. Sofort schnappt er sich das Gerät und hebt nach kurzer Einweisung ab. Allerdings endet die Sache skurril. Kroll startet dort, wo er sich schon etliche Male mit dem Drachen hinabgestürzt hat. Doch die miesen Flugeigenschaften des Schirms lassen ihn dicht über Grund driften. Plötzlich wickelt sich Kroll einmal komplett um das Stahlseil einer Transportseilbahn. Die war ihm nie aufgefallen. Nachdem man ihn aus der misslichen Lage befreit hat, hadert er mächtig mit sich selbst, wagt aber sofort den zweiten, diesmal erfolgreichen Versuch. „Das war schon gut“, erinnert er sich. „Die Drachenflieger haben mich natürlich ausgelacht: ‚Was willst du mit dem Fetzen da?‘ Aber ich dachte: ‚Wartet mal ab, das entwickelt sich.‘!“ Eine Woche später kauft er seinem österreichischen Kumpel den Schirm ab und packt ihn kurz darauf auf dem Pferdskopf aus. Premiere in Deutschland. Bei der Gleitzahl von nur 1:3 – bei hundert Metern Höhe fliegt man 300 Meter weit – klappt es gerade so bis zum Heckenhöfchen. Ein Fotograf hält das Abenteuer zufällig fest.

Kurz darauf riskiert Kroll den ersten Schleppstart mit einer Winde, die auf einem VW-Bus montiert ist. Nach dem Ausklinken dreht er einen einzigen Kreis und ist schon wieder unten. Die Modell- und die Segelflieger beobachten auch diesen Test mit Skepsis: „Jetzt spinnt der Kroll“. Doch obwohl auch er selbst diese Fluggeräte anfangs für recht gefährlich hält, wächst das Interesse an ihnen rapide. 1988 wird die Ausbildung gesetzlich geregelt. Die Schirme werden leistungsfähiger und sicherer. Vom hessischen Luftsportbund werden die frühen Piloten nicht akzeptiert: „Macht euch zu den Bergsteigern, wo ihr hingehört!“ Doch weil die Vorteile wie kleines Packmaß, schneller Aufbau und geringere Kosten überwiegen, setzt sich die Sportart durch. So werden alsbald auch in Sieblos Kurse angeboten. 1992 stößt Andreas Schubert als Gleitschirmlehrer zu Papillon. Zu dieser Zeit gibt es zwar nur fünf Kurse im Jahr, aber die sind so voll, dass die Autos bis hinauf zur Kirche stehen. Der Rest ist Geschichte: Die Flugschule wächst rasant, erobert Schritt für Schritt die Wasserkuppe, und wer heute ein Foto von dort ohne Gleitschirm machen will, muss es nachts versuchen.

Uli Kroll, inzwischen 73, hat sich aus dem Business zurückgezogen und fliegt, wenn überhaupt, nur mal aus Jux. „Wenn einer einen Sessellift in den Alpen betreibt, dann fährt der in seiner Freizeit auch nicht mehr.“ Aber die Erinnerungen an die große Freiheit bleiben: Einfach auf den Berg, ohne Führerschein, ohne Starterlaubnis, ohne Versicherung und fast ohne Kohle. „Es hat wild angefangen.“

von Arnulf Müller

 

 

Monica und Wilfried

Monica und Wilfried

 

 

„Heiraten ist nicht verkehrt“

 

Am 22. August 2009 läuteten für Monika und Wilfried Breitkopf die Glocken der St.-Andreas-Kirche am Neuenberg. Wenn zwei Menschen heiraten, ist das immer ein freudiges Ereignis. Im Falle der Breitkopfs war es darüber hinaus etwas Außergewöhnliches: Zum ersten Mal gaben sich Menschen von antonius das kirchliche Jawort.

Die Kirche war bis auf die letzte Bank besetzt und auch auf dem Vorplatz begrüßte ein großes Publikum das Brautpaar. Neben Familie und Freunden wollten viele mit antonius verbundene Menschen und sogar Eltern von Mitarbeitern des Paares das Ereignis hautnah miterleben. Als weitere Überraschung wartete eine Hochzeitskutsche – ein heimlicher Wunsch von Monika – auf das Brautpaar.

„Das war wunderschön.“

Die beiden lernten sich 1983 in der Wohngemeinschaft Lioba kennen. Eines Abends trafen sich ihre Blicke, Funken sprühten. Für beide war es Liebe auf den ersten Blick. Monika und Wilfried wissen sogar noch die exakte Uhrzeit. Wilfried war es auch, der mutig vorpreschte und fragte, ob sie ein Paar werden wollen. „Da war ich im ersten Moment sprachlos, und nun sind wir seit 34 Jahren zusammen“, sagt Monika lachend. Nach vielen schönen gemeinsamen Jahren mochte sie den nächsten Schritt gehen und fragte ihren Partner, ob sie standesamtlich heiraten wollen. Männer sind oftmals eher praktisch veranlagt, und daher meinte Wilfried schlicht, heiraten sei nicht verkehrt. „So einfach kann es sein“, kommentiert er heute mit einem verschmitzten Lächeln.

Heimlich kümmerten sie sich um alle Formalitäten, besorgten beispielsweise Abstammungs- und Geburtsurkunden. Erst danach weihten sie Familie und antonius in ihre Pläne ein. Begeistert vom festen Willen und der Eigenständigkeit der beiden reagierten alle positiv. Als Monika und Wilfried am 19. Dezember 2008 standesamtlich heirateten, waren sie seit 25 Jahren ein glückliches Paar. Den Schritt hatten sie sich genau überlegt, doch dabei sollte es nicht bleiben. „Als gläubige Christen war es uns wichtig, die Ehe auch vor Gott zu schließen. Das ist ja mehr als nur auf dem Standesamt.“

Nun ist es der katholischen Kirche wichtig, dass Brautpaare den Sinn der christlichen Ehe genau verstehen. Leise Bedenken im Falle der Breitkopfs waren jedoch schnell vom Tisch. Auch der Generalvikar des Bistums Fulda, Professor Dr. Gerhard Stanke, sah keine Gründe, die gegen eine kirchliche Trauung standen. Schließlich waren die beiden zu dem Zeitpunkt auch schon seit 26 Jahren ein treues Paar.

Pater Adalbert, der damalige Hausgeistliche von antonius, traute die beiden bewusst in der für Hochzeiten der Pfarrgemeinde zuständigen St.- Andreas-Kirche. Warum sollte solch ein Ereignis auch versteckt auf dem Gelände von antonius stattfinden? Hand aufs Herz: Wer braucht noch Liebesromane, wenn das Leben doch die schönsten Geschichten schreibt? Und vielleicht trauen sich bald auch noch mehr Menschen diesen Schritt.

von Jens Brehl

 

 

Christiane Meurer und Wolfgang Klose

Christiane Meurer und Wolfgang Klose

 

 

„Fulda war eine Kaffeewüste“

 

Wer durch die Löherstraße schlendert, den umweht oft der Duft frisch gerösteter Kaffeebohnen. Seit 2005 betreiben Christiane Meurer und Wolfgang Klose dort die „Kaffeekultur“, ein traditionelles Kaffeehaus verbunden mit Fuldas erster Rösterei der Nachkriegszeit.

Für den Traum von einer eigenen Rösterei haben beide im Alter von 50 Jahren den Mut aufgebracht, ihr Leben umzukrempeln und ins kalte Wasser zu springen. Doch im Grunde hatte niemand auf sie gewartet. Viele fragten sich anfangs, was das ganze Buhei soll. Wie jeder weiß, gibt es Kaffee vakuumverpackt für wenige Euro in Supermärkten und beim Discounter. Daher galt es, mit Qualität und Geschmacksvielfalt Pionierarbeit zu leisten. Mittlerweile ist der Durst nach handwerklich geröstetem Kaffee in Fulda so groß, dass sich weitere Röstereien ansiedeln konnten: Reinholz Kaffeerösterei und Rösterei Gecko.

Doch zurück zur Kaffeekultur: Schon Christiane Meurers Großvater besaß in Hamburg bis 1963 eine eigene Rösterei und irgendwie muss die Leidenschaft für Kaffee in ihren Genen liegen. Hingegen ist es im Rückblick kurios, dass Wolfgang Klose heute ein preisgekrönter Röster ist. Als Sozialarbeiter hatte er lange zu viel und vor allem schlechten Kaffee zu sich genommen, sodass er dem Getränk aufgrund des immer flauer werdenden Magens abschwor. „Erst durch meine Frau Christiane habe ich wieder zum Kaffee gefunden.“

Nun ist es vor allem die industriell hergestellte Ware, der er den Rücken gekehrt hat. Auch wenn Kaffee in einer ruhigen Minute getrunken wird, geht es bei der industriellen Fertigung hektisch zu: Die Bohnen rösten in gerade einmal eineinhalb Minuten bei bis zu 600 Grad. Selbst eine sogenannte schonende industrielle Röstung dauert nur bis zu vier Minuten und kann 400 Grad heiß sein. „Die Bohnen werden in Massen durchgejagt“, bringt es Meurer auf den Punkt. Zudem gilt für Kaffee nicht das, was wir bei Wein kennen und schätzen. Kaffee soll immer gleich schmecken, weshalb die vermeintlichen Experten unterschiedliche Kaffeesorten nach dem Rösten so lange mischen, bis der definierte Einheitsgeschmack erreicht ist – schließlich haben sich die Kunden seit Jahrzehnten daran gewöhnt.

Klose sieht es genau andersherum: „Wir wollen die Vielfalt zur Geltung bringen, die dieses Naturprodukt bietet.“ Jede Kaffeebohne besitzt ungefähr 700 Inhaltsstoffe, die sich während des Röstens zu über 1.000 Aromen transformieren und verbinden können. So gibt es unendlich viele Geschmacksrichtungen und Nuancen zu entdecken. Damit dies gelingt, röstet Klose seinen Rohkaffee bei 200 Grad bis zu 20 Minuten lang. Neben sortenreinem Kaffee gibt es spezielle Hausmischungen, deren Rezepte wohlgehütete Geheimnisse sind.

Auch auf die Herkunft der Bohnen legen die beiden besonderes Augenmerk und fragen bei ihren Importeuren detailliert nach. Stichworte: Pestizide, Kinderarbeit und faire Löhne. Die Fuldaer bevorzugen ökologischen Anbau und wollen, dass die Erzeuger mehr als nur den Weltmarktpreis für ihre Mühen erhalten. Im Laufe der Jahre haben sie sich ein Netzwerk an Lieferanten erarbeitet und kennen mitunter die Produzenten ganz genau. Auf Siegel und Zertifikate allein könne man sich nicht immer verlassen.

Die Kaffeekultur hat jedoch weit mehr als hochwertigen Kaffee in die Barockstadt gebracht. Neben einem Rückzugsort vor dem hektischen Alltag ist es vor allem auch ein lebendiger Treffpunkt für leidenschaftliche Diskussionen und regen Gedankenaustausch – und das ist kein Zufall, wie Klose erklärt. „Von der Institution des Kaffeehauses insbesondere im 19. Jahrhundert bin ich fasziniert. Dort trafen sich die unterschiedlichsten Menschen wie Künstler, Literaten und politische Aktivisten. Viele revolutionäre Ideen sind dort zur Welt gekommen, und so etwas sollte es auch in Fulda geben.“

von Jens Brehl

 

 

Ulrich Buettner

Ulrich Buettner

 

 

„Mehr als in den Graben kann ich nicht“

 

Wenn Ulrich Büttner von Künzell zur Arbeit nach Poppenhausen fährt, begegnen ihm immer öfter diese knubbeligen Kleinfahrzeuge: 350 kg leicht und 45 km/h langsam. Das freut ihn. Er sitzt selbst in so einem Mopedauto, und für ihn bedeutet das einen gewaltigen Zugewinn an Freiheit und Beweglichkeit.

Aufgrund seiner spastischen Lähmungen war der Erwerb des Führerscheins eine unbestreitbare Pionierleistung. Vor ihm gab es in unserer Region niemanden, der in ähnlicher Situation dasselbe gewagt hatte. Seinen widerspenstigen Bewegungsapparat auch in kniffligen Verkehrssituationen in den Griff zu bekommen, war die eine Hürde, die andere, schlecht meinende Gutachter und gut meinende Skeptiker zu überzeugen. Über all das haben wir 2012 im SeitenWechsel berichtet; ebenso über das Happy End im Jahr 2014.

Seit drei Jahren nun fährt Büttner sommers wie winters, unfallfrei übrigens. Einzig ein Vorderreifen musste dran glauben. Alles gut also? Fast. Denn einigen Zeitgenossen sind die Leichtmobile ein Dorn im Auge. Okay, niemand reagiert völlig emotionslos, wenn er einem wichtigen Termin entgegenfliegt und plötzlich wegen einer 45er-Kiste eine knappe Minute verliert. Mit wildem Hupen und zur Schau gestelltem Kopfschütteln hat Büttner inzwischen gelernt umzugehen.

Vor zwei Monaten aber wird er auf der B 485 von einem motorisierten Wutbürger massiv ausgebremst, weil dieser eine Weile hinter ihm hat herfahren müssen. Provozierend langsam fährt der Mann danach weiter vor ihm her. Setzt Büttner den Blinker links, tut er es auch. So verfolgt er ihn, obwohl er vorneweg fährt. Kurz bevor sie an Büttners Wohnung ankommen, steigt er erneut in die Eisen. Als beide Autos stehen, steigt er aus, baut sich vor dem kleinen Fahrzeug auf und brüllt los: „Du musst immer mal rechts ranfahren und die anderen Autos vorbeilassen!“ Büttner kurbelt das Fenster zwei Fingerbreit runter – man wisse ja nie – und erklärt ihm, dass er auf dieser Straße fahren dürfe und er doch überholen solle. Nach einigem Hin und Her dampft der Nötiger ab. Büttner schlägt die Sache auf den Magen. Bei LKWs und Bussen fährt er, sobald es geht, rechts ran, damit sie vorbei können. Ansonsten hält er sich so weit rechts, dass PKWs überholen können. Natürlich geht das nicht immer, „aber mehr als in den Graben kann ich nicht.“

Man kann sicher kontrovers über diese kleinen Fahrzeuge diskutieren. Im Kern aber geht es gar nicht nur ums Autofahren, sondern um das Problem, dass unterschiedliche Menschen im Leben ein unterschiedliches Tempo vorlegen. Kommt man sich dadurch in die Quere, nehmen die meisten Rücksicht. Einige aber verlangen Anpassung an eine vermeintliche Norm. Wenn jemand das nicht schafft, soll er sich eben verkrümeln. Dabei sind es meist die besonders Schnellen, die den Takt vorgeben wollen. Schnell zu sein, erhöht den Status. Der Schnelle wird gelobt. Deswegen erledigen wir die Dinge gerne „ratzfatz“, zudem „mit links“ und urteilen entsprechend über andere: „Dem kannste beim Laufen die Schuhe besohlen!“

 

Auch ein Vorreiter Fahrlehrer Michael Krebs

Auch ein Vorreiter Fahrlehrer Michael Krebs

 

 

Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention in 2008 hat sich Deutschland für eine Gesellschaft entschieden, in der die Verschiedenheit von Menschen von Grund auf akzeptiert wird. Das bedeutet: Schnelle sollen schnell sein dürfen, aber Langsame eben auch langsam. Letztlich brauchen wir Lösungen für ein asynchrones, aber dennoch gemeinschaftliches Miteinander. Nicht nur auf der Straße, auch in der Schule und am Arbeitsplatz. Ein großes Feld für Pioniere.

von Arnulf Müller

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