„Respekt vor der letzten Unnahbarkeit des Anderen“

Die Erfahrungen der Kindheit sind die Wurzeln eines ganzen Lebens.

Das galt auch für den kleinen Jakob, der so sehr an seinem Heimatdorf und den Seinen hing, dass er nie von dort weg wollte. Auf seinen Reisen als Erwachsener stellte er stets ein Foto seines Dorfes in seinen Hotelzimmern auf, obwohl ihn die Menschen dort längst verstoßen hatten.

 

Jakob Muth

Jakob Muth

 

 

Der Pädagoge Jakob Muth

Jakob, das ist Jakob Muth (1927–1993). Sein Dorf, das ist Gimbsheim, abgeschnitten von der Umgebung in einer Rheinschleife in sumpfigen Gelände gelegen, tief in der Provinz. Die meisten Dörfler blieben ihr ganzes Leben lang dort. Freundschaften und Ehen wurden in dieser vertrauten Gruppe geschlossen, ein Umstand, der Jakob Muth sehr prägte, führte diese Geschlossenheit doch zwangsläufig zu Inzucht und damit zu einem hohen Anteil an Menschen mit Behinderung.

Nach dem siebten Schuljahr an seiner Dorfschule wurde Jakob Muth auf die Ordensburg, eine Adolf-Hitler-Schule im 450 km entfernt gelegenen Sonthofen verbracht. Als er nach kurzer Kriegsgefangenschaft im Frühjahr 1945 zu Fuß in sein Dorf zurückkehrte, bekam er schmerzhaft zu spüren, dass er wegen dieser Tatsache nicht mehr dazugehörte. Als er sich mit 20 Jahren konfirmieren ließ, musste er entsprechend des Ritus auf die Frage des Priesters mit „Ich schäme mich des Evangeliums Christi nicht“ antworten. Um ihn vorzuführen, riefen einzelne Dorfbewohner von hinten „Lauter!“ und er musste seine Antwort dreimal wiederholen.

Das war für ihn der Bruch mit seinem Heimatdorf. Obwohl er sein Leben lang Sehnsucht danach hatte, obwohl sein Bestreben immer war, den Menschen mit Behinderung in seinem Dorf zu helfen und obwohl ihn ein Foto von diesem Ort später auf all seinen Reisen begleitete, war ihm jetzt klar: Ich gehöre nicht mehr dazu, ich bin für die „einer von der Ordensburg“.

Es liegt nahe, dass Jakob Muths lebenslanges Eintreten für den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern und für den Schulbesuch am Wohnort in diesen Erfahrungen gründet. In der gedanklichen Auseinandersetzung führte es ihn zu einer Pädagogik, die auf größtmögliche Gemeinsamkeit, auf ein Lernen in vertrauter Umgebung und auf die Vermeidung vom Ausschluss Einzelner setzte.

Nach dem Krieg lernte Muth zunächst Maurer und arbeitete beim Wiederaufbau von Mainz mit, bevor er 1948 ein Lehramtsstudium aufnahm. Nach Promotion und der Lehrtätigkeit an verschiedenen Hochschulen gehörte er dem Deutschen Bildungsrat an. Die Liste seiner Veröffentlichungen umfasst etwa 400 Titel. Besonders am Herzen lag ihm der pädagogische Takt, ein Begriff, der in der heutigen Sprache kaum noch gebräuchlich ist. „Der taktvolle Lehrer versucht, die Individualität des einzelnen Kindes und seiner besonderen Individuallage in Individualbesorgung gerecht zu werden, und dadurch kann er die Verletzung des Kindes vermeiden.“

Takt ist „ein Gefühl für das Du, für den Mitmenschen, für die Eigenart und das Eigenrecht des anderen Menschen, ist ein Respekt vor der letzten Unnahbarkeit des Andern“. Takt ist immer konkret. Er schont den anderen, drängt sich nicht auf, gibt Hilfe, wenn Hilfe gewünscht wird, nimmt Rücksicht und verletzt nicht.

 

Eine Auszeichnung, die Mut(h) macht

Eine Auszeichnung, die Mut(h) macht

 

 

Aus dieser Haltung heraus setzte sich Jakob Muth für den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung ein. Seine Grundüberzeugung lautete: „Wo nicht ausgesondert wird von der frühen Kindheit an, da braucht auch nicht integriert zu werden.“.

Jakob Muth war streitbar und kompromisslos in der öffentlichen Auseinandersetzung, aber auch geduldig, zugewandt, väterlich, besonders im Kontakt zu seinen Studentinnen und Studenten, zu Kindern und ihren Eltern.

Er ist Namensgeber vieler Schulen, und seit 2009 wird der Jakob Muth-Preis an Schulen verliehen, die sich für den gemeinsamen Unterricht aller Kinder besonders engagieren. Projektträger des Preises sind der Behindertenbeauftrage der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, die Bertelsmann-Stiftung, die Deutsche UNESCO-Kommission und die Sinn-Stiftung. Dieser Preis wurde im Juni 2017 der Antonius von Padua Schule als einziger deutscher Grundschule verliehen.

von Hanno Henkel

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