Schritte in die Selbstständigkeit
Dienstagmorgen, 8 Uhr. Die ersten Schüler sind eingetroffen: Rahel Schmitt, Gerrit Krain und Tobias Winkels sitzen am großen Esstisch in der geräumigen Küche – dem wichtigsten „Klassenraum“ der Wohnschule.
Die Küche ist Teil einer komplett eingerichteten Wohnung in der Kronhofstraße – ein Ort, an dem an jedem Dienstag das „Wohnen“ in all seinen Facetten auf dem Stundenplan steht.
Antje Herchenhan und Carola Maus, beide Sozialpädagogen, vermitteln jungen Erwachsenen mit besonderem Förderbedarf das nötige Wissen und unverzichtbare Fertigkeiten, die sie für ein selbstständiges Leben in den eigenen vier Wänden brauchen. Das reicht vom Einkaufen und dem Umgang mit Geld, dem Bedienen von Waschmaschine und Bankautomat bis hin zu Tipps in puncto Hygiene und gesunder Ernährung. „Wir sehen uns nicht als Leiterinnen eines erweiterten Back- und Bügelkurses, sondern als Begleiterinnen. Wir richten uns nach dem, was konkret gebraucht wird, und motivieren die Teilnehmer, die Probleme ihres Alltags in die eigene Hand zu nehmen“, betont Antje Herchenhan.
„Wer macht Tee?“, fragt Pädagogin Maus, und dabei fällt ihr Blick auf Gerrit Krain. „Na gut – ausnahmsweise“, sagt der 24-Jährige wenig euphorisch, steht auf, greift zum Wasserkocher und sucht nach Teebeuteln. „Sonst macht Moritz immer Tee“, erklärt Frau Herchenhan. Zeitgleich geht die Türe auf, und Moritz Diel, Mathias Pantke und Johannes Kiszner treten ein, sagen „Hallo!“ und setzen sich. Die Runde ist jetzt komplett. Als Moritz Diel sieht, dass seine gewohnte Aufgabe schon ein Mitschüler übernommen hat, ist er darüber nicht traurig. Auf die Frage, ob er gerne Tee koche, antwortet er: „Meistens – nicht immer! Manchmal!“
Auf den ersten Blick wirken die Wohnschüler wie Teenies, die hin und wieder kindliche Fragen stellen, sich necken und untereinander Scherze machen. Doch die meisten von ihnen sind bereits zwischen 20 und 30 Jahre alt, in einem Alter also, in dem ihre Altersgenossen bereits mit Ausbildung oder Studium fertig sind oder sogar schon eine Familie gegründet haben. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Einschränkungen und Lebensgeschichten sind viele der Wohnschüler sehr behütet aufgewachsen. „Einige mussten sich von Geburt an um nichts kümmern, ihre Eltern haben ihnen aufgrund der Behinderung viele Aufgaben abgenommen, die sie vielleicht hätten bewältigen können. Und mancher hat es sich über die Jahre hinweg in dieser Rolle bequem gemacht“, erklärt Carola Maus. Die meisten, ergänzt sie, hätten hier in der Wohnschule zum ersten Mal in ihrem Leben eine Toilette selbst geputzt – und das mit über 20 Jahren. In der Wohnschule kümmern sich die Teilnehmer selbst um ihre Räumlichkeiten, putzen und halten Ordnung, schauen gemeinsam, dass sie es gemütlich haben. Zweifellos ist der Weg aus der gewohnten Obhut und familiären Fürsorge in die Eigenständigkeit kein leichter. Ängste und Zweifel müssen überwunden werden, aber mit der notwendigen Unterstützung und in zumeist kleinen Schritten kann er zu einem aktiven, von Teilhabe geprägten Leben führen. Und genau das ist das Ziel des Projekts „Schule des Wohnens“: Menschen mit Behinderung nicht länger in Heimen zu betreuen, sondern sie langfristig bereit zu machen für ein Wohnen und Leben inmitten der Gesellschaft – und das mit allen Herausforderungen und Schwierigkeiten, die damit für sie, aber auch für ihr Umfeld gegeben sind.
Ein banales Beispiel bietet der Einkauf im Supermarkt: Krain schiebt denEinkaufswagen. „Erst Tee rot“, sagt Johannes Kiszner und hat das entsprechende Regal bereits im Visier. „Bio – Bio ist gut!“, sagt er und legt zwei Päckchen „Bio-Erdbeer-Cranberry“ in den Wagen. Dazu gesellen sich eine Packung Kaffee, eine Plastikflasche mit Honig, zwei 1-Liter-Tetra-Packs fettarme Milch, zwei Netze Zitronen und schließlich – nach längerer Suche und ausgiebiger Prüfung – Flüssigseife mit Meeresfrische-Aroma. An der Kasse legen beide Wohnschüler die Einkäufe langsam auf das Band. „11,83 Euro“, sagt die Kassiererin. Kiszner klaubt eine Münze nach der anderen aus dem Portemonnaie, beginnt zu zählen ... „Ich hab’ Zeit“, sagt die freundliche Dame, die hinter uns steht. An der Kasse bildet sich mittlerweile eine Schlange. Ein anderer Kunde verzieht genervt das Gesicht, schielt sichtbar nach oben. Die Kassiererin dagegen hat die Ruhe weg. Als ihr Johannes Kiszner das Geld in Gänze hinstreckt, zählt sie nach, nickt und überreicht den Bon. Gerrit Krain hat derweil alles in die Tragetasche gepackt. Die nette Dame hinter uns, die nun an der Reihe ist, wünscht uns noch einen schönen Tag, der Herr hinter ihr grummelt sich etwas in seinen Bart. Und wir gehen zurück zur Wohnschule, wo wir schon erwartet werden.
„Mir hat geschafft! Mir sind fertig“, freut sich Kiszner. Alle prüfen, ob auch nichts vergessen wurde. Carola Maus nimmt Restgeld und Bon entgegen. Alles bestens! „Heiße Zitrone“ steht jetzt unter der Überschrift „Gesundheit und Ernährung“ auf dem Stundenplan. Nach dem kollektiven Händewaschen legen die beiden Begleiterinnen Zitronen, Messer, Schneideunterlage und Zitronenpresse auf den Tisch. „Wer will zuerst?“ Spontan meldet sich Rahel Schmitt, steht auf, nimmt das Messer, hält es aber zunächst etwas unglücklich. „Wie war das mit dem Tunnelgriff?“, fragt Antje Herchenhan. Die Wohnschülerin erinnert sich, hält nun die beiden Enden der Zitrone unten mit dem Daumen und oben mit dem Zeigefinger fest und teilt die Frucht sicher in zwei Hälften. Mit viel Kraft presst sie erst die eine, dann die andere aus, gießt den Saft in den Becher. Perfekt. Doch nicht jeder Wohnschüler legt solchen Elan an den Tag, weshalb es bei dem einen oder anderen einiger Motivationshilfe bedarf. Am Ende gibt es für alle heiße Zitrone. „Das beugt Erkältungen vor und hilft gegen Halsschmerzen“, erklärt Carola Maus. „Un’ schmeckt!“, ergänzt Johannes Kiszner.
Von einem Tunnelgriff hatte ich vorher noch nie etwas gehört. Aber das Bild bleibt. Es vermittelt eine Ahnung, warum viele Eltern ihrem Kind, aus Angst, es könne sich verletzen, stets das Messer aus der Hand nehmen. Das Kind lässt es geschehen, entwickelt mit der Zeit selbst ein Unbehagen und traut es sich später nicht mehr zu. Unselbstständigkeit fällt nicht vom Himmel. Eine ihrer Ursachen ist die Angst. Dabei zeigt die engagierte und dabei doch bedachte Art, mit der Rahel Schmitt Ratschläge annimmt und umsetzt, dass man sehr wohl auch Menschen mit Einschränkungen viel zutrauen kann und dass Sicherheit im Handeln nur durch solches Zutrauen wachsen kann. Auf die Frage, warum sie die Wohnschule besuche, entgegnet die 22-Jährige: „Wir sind hier, um irgendwann mal weg von Mama und Papa ein eigenes Leben zu führen.“ Ihre Eltern hätten sie in ihrer Entscheidung, das Angebot des Antoniusheims anzunehmen, unterstützt. Aber bislang könne sie sich noch nicht vorstellen, alleine zu leben. Noch wohne sie bei ihren Eltern, und das solle sich auch so schnell nicht ändern: „Daheim fühl ich mich sicherer. Als ich hier angefangen hab, hab ich gesagt: Hör mal zu, lieber Papa, glaub nicht, dass ich gleich auszieh, nur weil ich in die Wohnschule gehe. Ausziehen? Später! Noch bin ich hier daheim!“
Alle Wohnschüler leben noch zu Hause. Mathias Pantke und Johannes Kiszner haben schon konkrete Pläne. Sie werden in der nahen Zukunft in ein Wohnprojekt in Eichenzell ziehen und bereiten sich hier auf die anstehenden Aufgaben vor, die echte Hausmänner zu erledigen haben. Bis dahin gibt es noch viel zu tun. Bislang, so sagen Begleiterinnen, hat noch niemand aus der Gruppe den Mut gefunden, alleine in der Probe-Wohnung zu übernachten. Aber bis zum Sommer, wenn das Angebot dann nach anderthalb Jahren endet, ist es ja noch ein bisschen Zeit. „Bei uns wird niemand gezwungen, alles passiert freiwillig“, sagt Antje Herchenhan. In der Gruppe Mut finden und sich etwas zutrauen, darum geht es. Und in dieser Hinsicht sind schon viele (Fort-)Schritte geschafft.
von Klaus H. Orth