Schüler wollen Lernen
Tief im Inneren ist alles noch da: das Nachhallen der Schritte auf den langen Fluren, der eigentümliche Geruch von Belägen und Vorhängen, die nüchterne Atmosphäre der Klassenräume.
Obwohl unsere Erinnerungen an die Schule zwiespältig sind, und obwohl wir auch als Eltern oft an ihr herummäkeln, können wir uns eine ganz andere Schule nicht wirklich vorstellen. Klar, freundliche Klassenzimmer, verständnisvolle Lehrer, moderne Ausstattung: Da gibt es vieles, was wir unseren Kindern wünschen. Aber können wir uns eine erfolgreiche Schule vorstellen, an der man nicht nur lernt, weil man muss? An der es keine Noten gibt und kein Lehrerpult? „Unsinn!“, sagen wir und denken sofort an weichgespülte Reformkonzepte, überzarte Kinderseelen und Helikoptereltern. Doch ist das so? Ein Blick in die Antonius von Padua Schule öffnet überraschende Perspektiven.
Keine Türen. Das ist das Erste, was ins Auge fällt. Wer den Grundschulbereich der Antonius von Padua Schule betritt, steht in einem großen, farbenfrohen Zentralbereich, welcher nahtlos in vier Klassenräume übergeht. Couchartige Ledermöbel stehen hier, auf denen gerade Schüler in Zweiergruppen hocken und mithilfe kleiner Plastikboxen Kopfrechnen üben. Es herrscht ein reges Treiben, aber man hört nur ein angenehmes Gemurmel. Das ist das Zweite, was sofort auffällt. Die Ruhe. Keiner schreit herum, keiner rennt herum. Trotz des offenen Rahmens herrscht Disziplin. Wie geht das?
Um es zu verstehen, muss man nur auf sich selbst achten: Wer die Räumlichkeiten betritt, senkt automatisch seinen Pegel. Niemand stört gerne. Natürlich muss jedes Kind zunächst entdecken, dass es für den Gesamtlärm mitverantwortlich ist, und ohne klare Ansagen geht das nicht. Aber der Lehrkraft stellt sich nicht mit gewölbter Brust vor die Klasse und ruft lautstark zur Ruhe. Sie spricht das betreffende Kind leise mit dessen Namen an. So entwickeln die Kinder allmählich Selbstkontrolle, zumal sie die Ruhe selbst genießen: Mathe im Tumult fällt eben schwer. Doch Totenstille ist auch nicht erwünscht; die Kinder sollen schließlich mit und voneinander lernen.
Nach einer Viertelstunde schlägt ein Lehrer leise auf einen Gong. Alle huschen in ihre Klassenräume, erste Klasse links, zweite Klasse rechts. Sie hocken sich auf u-förmig angeordnete Bänkchen vor der Tafel: 15 Grundschüler auf vier Quadratmetern, die Lehrerin mittendrin. Sie fragt die Kinder, wie es weitergeht, und die wissen es: Hefte schnappen und Mathebuch, Gruppenarbeit steht an. Zwei, drei Dinge werden noch abgesprochen, dann zerstreut sich die Meute wieder.
Gießkannen gibt es nur im Schulgarten
Etwa sechs-, siebenmal täglich gibt es ein solches „Klassentreffen“, und meist dauert es nur wenige Minuten. Von außen betrachtet sieht es gerade jetzt wie Schule aus, doch das täuscht. Es handelt sich mehr um Lagebesprechungen als um Wissensvermittlung. Zwar werden dabei auch mal neue Themen eingeführt oder Schüler präsentieren ihre Ergebnisse vor der Gruppe, doch die Kinder sind viel zu unterschiedlich, als dass der Lehrer frontal vor ihnen stehen und sein Wissen gleichmäßig über sie ausgießen könnte. Gießkannen gibt es hier nur im Schulgarten.
Aber wie sieht z. B. das Mathebüffeln in einer Klasse aus, in der das Leistungsspektrum von starker Lernbehinderung bis Hochbegabung reicht? Das Lernen findet auf Lerninseln statt: Paula, Franziska und Jakob sitzen gemeinsam am Tisch und bearbeiten dieselbe Seite im „Matherad“. Das ist ein Lehrmittel, das ein Lernen nach je eigenem Tempo erlaubt. Die drei lösen Übungsaufgaben und helfen einander, das nächste Etappenziel zu erreichen. Wenn sie glauben, ihren Part verstanden zu haben, gehen sie zum Lehrer und bitten ihn, darüber die Prüfung ablegen zu können. Das ist eine Art intensives Gespräch, bei dem Aufgaben gelöst werden. Vielleicht legen sie die Prüfung gemeinsam ab, denn sie sind etwa gleich stark. Vielleicht aber auch getrennt, weil Franziska doch länger gebraucht hat, als erwartet. Das Ziel ist aber nicht das Festlegen einer Note, sondern die Gewinnung einer differenzierten Einschätzung, wobei auch die richtige Selbsteinschätzung des Kindes trainiert wird.
Carlo und Susanne lösen ihre Aufgaben auf einer der Lederbänke. Sie sind noch weit von dieser Etappe entfernt, ganze drei Kapitel. Nicht schlimm. Der Lehrer nimmt sich hier einfach etwas mehr Zeit. Für beide wird es ebenso ein Erfolg werden, wenn sie bald zeigen können, dass sie ihren Stoff beherrschen.
Hannah hat eine schwere Lernbehinderung. Sie ist damit beschäftigt, die Zahlen von eins bis fünf zu verstehen. Kleine Zettel liegen auf dem Fußboden. Auf ihnen ist jeweils eine Hand gezeichnet, die mit den Fingern eine Zahl zeigt. Hannah legt eine entsprechende Anzahl von grünen Würfeln neben die Zettel. Jonas, ein starker Matheschüler, der meist früh mit seinen Übungen fertig ist, schlüpft für zehn Minuten in die Rolle des Lehrers. Er leitet Hannah an, ermuntert sie weiterzumachen und freut sich mit ihr, wenn´s klappt. Könnte kein Lehrer besser. So lernt Jonas, Verantwortung zu übernehmen, ganz ohne Überheblichkeit.
Mirko schließlich löst schon Aufgaben, die zum Stoff der dritten Klasse gehören – und das, obwohl er erst in der ersten Klasse ist. Seine Hochbegabung ist diagnostiziert, und so stößt er während der Mathestunde von der ersten zur zweiten Klasse. Gäbe es schon eine dritte Klasse an der neuen Schule, würde er sogar dorthin gehen. Solche Übergänge sind hier einfach. Er muss sich gerade mal sechs Meter auf der anderen Seite des Raumes einen Platz unter etwa gleich starken Schülern suchen und wird dann von den dort zuständigen Lehrern mitbegleitet. Und da es keine Türen gibt, muss er nicht diese unangenehme Hürde überwinden: Anklopfen – „Herein!“ – neugierige Schülerblicke. „Fremde“ Klassen gibt es ohnehin nicht. Nur unterschiedliche Zonen.
Damit eine solche Flexibilität möglich ist, werden die Fächer in allen Jahrgangsstufen parallel unterrichtet: Zuerst Mathe, dann Deutsch. Nach der Pause Sachkunde, Musik, Sport und Kunst. So können nicht nur die starken Schüler ihren optimalen Lernort aufsuchen, auch die schwächeren können mal eben zum Wiederholen eines Themas eine Klasse weiter nach links wandern.
Das größte Problem von Regelschulen ist es, permanent den Gleichschritt des Lernens aufrechterhalten zu müssen, obwohl die Schüler immens unterschiedlich sind. Gebannt starren alle auf den Durchschnitt und diejenigen, deren Lerngeschwindigkeit sich diesseits oder jenseits des Durchschnitts befindet, zahlen den Preis. Warum eigentlich müssen alle Schüler in derselben Zeit und zur selben Zeit dieselben Inhalte lernen? Eigentlich nur deshalb, weil wir mit möglichst wenig Mitteln die größtmögliche Zahl an Schulabschlüssen produzieren wollen. Und weil wir glauben, dass Schüler nun einmal nur unter Druckund in Konkurrenz untereinander gute Ergebnisse abliefern.
Von diesen Zwangsvorstellungen hat sich die Modellschule verabschiedet. Die grundlegende Annahme lautet hier nicht „Schüler müssen lernen“, sondern „Schüler wollen lernen“. Nur wenn dieser natürliche Impuls von außen kaputtgemacht wird – durch permanenten Leistungsvergleich und Negativkritik – verlieren sie die Freude und geraten in eine Situation, in der sie lernen müssen.
Deshalb geht es in der Antonius von Padua Schule nie um den Durchschnitt, sondern immer um den Einzelnen. Um das, was jeder – gemessen an seinen Talenten – maximal erreichen kann. Im Grunde herrscht ein radikales Förderprinzip. Aber das funktioniert nur, wenn die Lehrer ihre Rolle völlig neu begreifen. Als Erstes fliegen die Lehrerpulte raus. Statt immer vorne im Mittelpunkt zu stehen, streift der Lehrer durch die – wohlgemerkt – kleinen Klassen. Sein Arbeitsort ist jeweils dort, wo Kinder gerade ihre Projekte bearbeiten. Er ist weniger Wissensvermittler als Lernbegleiter, einer, der jedes Kind genau kennt, gezielt Anstöße gibt und geschickt Knoten in den Köpfen der Schüler löst. Er ist mehr an Kompetenzen interessiert als an Inhalten. Er stellt kluge Fragen, beschränkt seine Antworten auf ein Minimum, weil er die Kinder viel selbst entdecken lässt. Jedes einzelne Kind hat in der Summe weniger frontale Lehrer-Ansprache als an einer normalen Grundschule. Dafür eine gezieltere. Und persönlichere. Vor allem: Der Lehrer spricht wertschätzend. Wenn ein Kind nur sehr langsam sein Ziel erreicht, sagt er: „Du hast das super gemacht, hättest es sogar ein wenig schneller machen können!“ Er sagt nicht: „Das war gut, aber du warst zu langsam!“ Ein kleiner, aber feiner Unterschied.
Wer an der Antonius von Padua Schule arbeiten will, muss diese neue Lehrerrolle verinnerlichen. Klar, ein Lehrer muss hier mehr arbeiten: zum einen, weil er bei einer Mehrzahl von Leistungsstufen auch eine Mehrzahl von Lernmaterialien bereitstellen muss; zum anderen, weil er den Tagesablauf stets mit Kollegen absprechen muss, da oft zwei Lehrer in einer Klasse agieren. Dennoch: Keiner von ihnen will zurück an eine Regelschule. Jeder genießt die große Gestaltungsfreiheit und die besondere Atmosphäre der Schule.
Aber haben die Lehrer keine Sorge, dass ihre Kinder am Ende der Grundschulzeit im Vergleich schlechter aufgestellt sein könnten und Probleme beim Übergang auf eine weiterführende Schule bekommen? „Ich habe definitiv keine Angst!“, betont Mareike Diener, die jetzt im zweiten Jahr das Konzept mit Leben füllt. Dass die Schüler irgendwann mit Noten und dem Lernen im Gleichschritt konfrontiert werden, wissen hier ohnehin alle, und natürlich werden sie rechtzeitig darauf vorbereitet. „Die Kinder erwerben hier wahnsinnig viele Kompetenzen, die für ihr Leben gewinnbringend sind, vor allem das selbstständige Arbeiten und die ganzen kooperativen Lernformen. Da müssten sie sogar deutlich besser aufgestellt sein.“
„Wir machen ja keine Schule, die den Leistungsbegriff ablehnen würde“, fügt Schulleiter Hanno Henkel hinzu, der immer wieder mit Missverständnissen zu kämpfen hat. „Natürlich geht es um Leistung. Aber es geht immer um die Leistung, die ein Kind erbringen kann. Von einem Kind eine Leistung abzurufen, von der alle Beteiligten von vornherein wissen, dass es sie gar nicht oder noch nicht erbringen kann, ist unsinnig.“ Kinder, so das vorrangige Ziel, sollen sich nicht als Verlierer erleben. Wenn etwa die Arbeit eines Kindes mit geistiger Behinderung vor der Klasse präsentiert wird, macht der Lehrer dabei immer deutlich, um wie viel mehr Laura kämpfen musste, um dieses „schlechtere“ Produkt zu erreichen. Und das respektieren die Kinder. Das Produkt wird nie unabhängig vom Kind bewertet, und deshalb kann es umgekehrt auch sein, dass der Lehrer zur gewohnt guten Arbeit von Mirko sagt: „Das ist klasse! Aber überleg mal, was du in der gleichen Zeit noch hättest schaffen können?“
Inklusion ist hier kein Thema
Im Letzten kann man viel und kontrovers über ein solches Modellprojekt diskutieren. Nicht wenige Beobachter von anderen Schulen lassen sich von Förderihren Befürchtungen leiten und sagen: „Das ist toll, aber bei uns würde das nie funktionieren!“ Das beste Argument dafür, dass es eben doch funktionieren kann, geben die Kinder selbst. Wer die Freude sieht, mit der sie hierherkommen, die Ernsthaftigkeit, mit der sie zu Werke gehen, den verbindlichen Umgang, den sie untereinander pflegen, sowie das hohe Maß an Selbstverantwortung, das sie in so jungen Jahren an den Tag legen, der wünscht sich unwillkürlich, auch auf einer solchen Schule gewesen zu sein. Und mehr gibt es zu diesem Thema eigentlich nicht zu sagen. Aber muss man, wenn man die Antonius von Padua Schule beschreibt, nicht auch über Inklusion sprechen? Wo doch in jeder Klasse vier bis fünf Kinder sind, die mit Behinderung konfrontiert sind? Nein. Das ist hier kein Thema. Weil hier konsequent ein individuelles Förderkonzept verfolgt wird, ist es letztlich gleich, auf welcher Lernstufe sich ein Kind bewegt. Alle haben eine optimale Förderung verdient, und deswegen steht die Schule den unterschiedlichsten Kindern offen. Punkt.
von Arnulf Müller mit Andreas Sauer