SeitenWechsel Ist manchmal Notwendig von Pater Cornelius Bohl

Wem das markante Profil der Milseburg nur aus der Sicht vom Petersberg her vertraut ist, der wird sie vielleicht schwerlich wiedererkennen, wenn er von Hilders her auf sie zuwandert. 

Unten von Kleinsassen wirkt sie anders als oben bei den Kreuzen. Der Berg bleibt derselbe, nur die Perspektive ändert sich. Nach einem Seitenwechsel sieht die Welt oft anders aus.

Franz von Assisi kommt aus gutem Haus. Die Karriereleiter steht bereit, beruflich und gesellschaftlich locken Spitzenpositionen. Als er mit zwanzig Jahren aufbricht in den Krieg gegen die Nachbarstadt, fühlt er sich schon als Sieger. Es kommt anders: Der Kriegsgefangene im dunklen Verlies findet sich plötzlich ganz unten wieder, in der Verliererposition.

Der erste Seitenwechsel war unfreiwillig. Der nächste hat etwas Spielerisches an sich. Auf einer Wallfahrt nach Rom tauscht Franziskus seine modischen Kleider mit den Lumpen eines Bettlers. „Er hätte das gerne schon früher einmal getan, wenn ihn nicht die Scheu vor Bekannten gehemmt hätte“, schreibt der mittelalterliche Biograph. Einfach mal die Seite wechseln. Probeweise. Neugierig, wie sich das anfühlt. Verschafft das dem jungen Geschäftsmann nur einen Kick? Entdeckt der Sunnyboy hier die Schattenseite des Lebens? Aber die Kleiderschränke daheim sind voll, es war ja nur ein experimenteller Selbstversuch.

Vom entscheidenden Seitenwechsel seines Lebens berichtet er in seinem Testament: „Es kam mir sehr bitter vor, Aussätzige zu sehen. Der Herr selbst hat mich unter sie geführt, und ich habe ihnen Barmherzigkeit erwiesen. Und als ich fortging von ihnen, wurde mir das, was mir bitter vorkam, in Süßigkeit verwandelt.“ Der „Aus-Gesetzte“ lebt draußen vor der Stadt, gesellschaftlich ausgegrenzt. Allein schon sein Anblick macht „bitter“: Er stört, ekelt an. Und er ist ja auch gefährlich, ich könnte mich anstecken! Also am besten einen großen Bogen machen und wegschauen. Als Franziskus sich ihm zuwendet, geschieht etwas mit ihm, was er bis an sein Lebensende nicht vergisst: „Bitteres“ wird „süß“. In dem, was nicht schmeckt, findet er neuen Geschmack am Leben. Das Störende gibt Orientierung.

Dieser Seitenwechsel ist keine moralische Spritze, so nach dem Motto: „Ich sollte mich ein bisschen um diese armen Leute kümmern!“ Die Begegnung mit den Aus-Gesetzten stellt seine ganze bisherige Welt auf den Kopf. Was ist wichtig im Leben? Was brauche ich? Worauf kommt es wirklich an? Eigentlich hatte er diese Fragen für sich schon beantwortet. Hatte er zumindest gedacht. Aber da muss er wohl noch mal neu ran. Und vor allen Dingen: Für ihn beginnt jetzt kein Opferleben. Er wird nicht zum moralinsauren Asketen, der sich rund um die Uhr politisch korrekt aufreibt und damit anderen ein schlechtes Gewissen einjagt. Sein Leben wird „süß“, er entdeckt etwas, das froh macht und Energie verleiht.

Seitenwechsel können ganz schön hart sein. Sie machen die bisherigen Lebensmuster kaputt. Wir haben doch alles so schön fein säuberlich sortiert: gut und böse, gesund und krank, Deutsche und Ausländer, Fromme und Nichtfromme … Im Blick von der anderen Seite gerät das plötzlich alles durcheinander, passt nicht mehr. Aber so kann Neues beginnen: Wenn ich die Welt plötzlich einmal nicht von oben anschaue, sondern von unten, eine Beziehung aus der Perspektive des Partners, die Politik aus dem Blickwinkel eines Hartz-IV-Empfängers, die Zukunft aus den Augen der Kinder. 

Jahrelang ist Franziskus Aus-Gesetzten aus dem Weg gegangen. Warum lässt er sich eines Tages auf eine Begegnung ein? Ich weiß es nicht. Irgendwann ist ein Seitenwechsel vielleicht einfach einmal dran.

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