„Solche Erfahrungen machen glücklich“
Dr. Alois Rhiel zum 120-jährigen Stiftungsjubiläum
120 Jahre sind eine lange Zeit. Nicht viele Fuldaer Unternehmen haben so viel Ausdauer bewiesen. Obwohl die Bürgerstiftung antonius : gemeinsam Mensch (urspr. St. Lioba-Stiftung) seit ihrer Gründung mit knappen Mitteln auskommen muss, kann sie eine tiefschwarze Bilanz vorweisen: und zwar in sozialer Hinsicht. Das liegt nicht nur an den konkreten Hilfeleistungen, die sie Tag für Tag erbringt, sondern auch an dem, was sie jenen zurückgibt, die sich für den Stiftungszweck engagieren. „Wer gibt, empfängt auch“, sagt Dr. Alois Rhiel, der mit antonius von Kindesbeinen an vertraut ist und dem Netzwerk seit Jahrzehnten den Rücken stärkt. Im SeitenWechsel-Gespräch erläutert der Vorsitzende des Stiftungsrates die Idee und den Geist der Unternehmung, die in diesem Jahr ihren runden Geburtstag feiert.
Herr Dr. Rhiel, Sie kennen antonius seit Ihrer Kindheit. Was waren Ihre ersten Eindrücke?
Meine Tante, die Schwester meines Vaters, betreute hier als Vinzentinerin mit dem Namen Maria Natalia eine Jungengruppe. Wenn ich sie mit meinen Eltern aus dem Amöneburger Land kommend besuchte, habe ich nie Scheu gespürt, eher Geborgenheit, die das ganze Haus ausstrahlte. Vor allem spürte ich Fröhlichkeit. Das mag auch an meiner Tante gelegen haben, die gerne gelacht hat. Noch heute spüre ich diese Geborgenheit, wenn ich bei antonius bin, und gehe immer noch besser gelaunt von hier weg, als ich gekommen bin.
Wie alt waren Sie damals?
Fünf oder sechs Jahre. Wir kamen jedes Jahr und fanden hier das vor, was wir von zu Hause her kannten: die Landwirtschaft. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie gerne mein Vater mit der Landwirtsfamilie Bös fachsimpelte. Oder auch an die Kartoffelernte.
Hat Ihre Tante selbst mitgearbeitet?
Ja, es war alles sehr arbeitsintensiv. Aber es wurde auch oft gesungen, es gab viel Spaß. Später spürte ich, dass es ein religiös geprägtes Haus war. Es herrschte ein bestimmter Geist. Die Grundhaltung der Nächstenliebe war mit Händen zu greifen. Und wie gesagt: der heitere Grundton. Das ist heute noch so. Ein Beispiel: Kürzlich war ich im antonius Laden. Ein Mitarbeiter zeigte mir an der Waage, welche Nummer ich bei den Tomaten eintippen muss. Da kam ein anderer hinzu und sagte: „Hast du's immer noch nicht gelernt?“, und wir lachten dabei spitzbübisch. Damit hat er mir zum einen gezeigt, was er selbst kann. Zum anderen erzeugen solche Begegnungen eine demütige Haltung. Ich spüre dabei, was im Leben zählt und was trägt: die Begegnung.
Was ist der Grundgedanke der Stiftung?
antonius ist nicht zu denken ohne den Geist der Nächstenliebe. Das bedeutet: Jeder Mensch trägt die gleiche Würde. Niemand darf in eine Schublade gesteckt werden, auch nicht der Mensch mit Behinderung. Das Grundprinzip bei antonius ist, dass wir nicht auf das schauen, was einem Menschen fehlt, sondern auf das, was er ist. Wir fragen: „Was kann dieser Mensch?“, und nicht: „Was kann er nicht?“ Darin steckt der menschengemäße Entwicklungsgedanke.
Was heißt das konkret?
Das lässt sich an den Menschen ablesen, die bei antonius leben und arbeiten. Ich kenne Beispiele aus dem antonius Ladencafé in der Altstadt, wo meine Frau ehrenamtlich tätig ist. Dort kamen junge Menschen hin, die anfangs schüchtern und ängstlich waren. Wenn ich diese Personen heute sehe, erlebe ich Persönlichkeiten, die frei und offen die Kunden ansprechen, die die Kasse bedienen, die einen Witz machen. Das sind Entwicklungssprünge – da lacht einem das Herz. Solche Erfahrungen machen mich glücklich.
Das Grundprinzip von antonius: Nicht auf das schauen, was einem Menschen fehlt, sonder auf das, was er ist
120 Jahre hält eine Stiftung nur durch, wenn sie wandlungsfähig ist. 1995 galt es, die Vertrauenskrise zu überwinden, in welche die Stiftung unverschuldet geraten war. Am Ende ging sie gestärkt daraus hervor. Wie sehen Sie die Entwicklung seitdem?
antonius ist inzwischen ein Vorbild dafür geworden, wie man die Herausforderung der sozialen Frage am besten annimmt. Die heutige Ausstrahlung von antonius hängt übrigens sehr stark mit der Person von Rainer Sippel zusammen, der in der Zeit der schweren Krise in die Verantwortung gerufen wurde. Er und sein Team haben antonius aus einem tiefen Tal herausgeführt, wobei der Aufbruch zwei Komponenten hatte. Zum einen ist antonius seinem Grundauftrag treu geblieben: Jeder Mensch wird in seiner Würde gesehen, in seiner Fähigkeit zur Entwicklung, und wir versuchen, sie individuell und in der Gruppe zu ermöglichen. Dieser besondere pädagogische Auftrag prägt unsere Arbeit bis zum heutigen Tag. Dafür sind Räume geschaffen worden, Räume derBildung, der Arbeit und der Freizeit. Hinzu kommt ein ehrliches Interesse an jedem einzelnen Menschen. Der von gegenseitiger Achtung geprägte Umgang ist uns eine Herzensangelegenheit. Alle sozialen Initiativen bewegen sich in einer christlich- humanistischen Perspektive. Zum anderen ist eine große Innovationskraft zu erleben. Denken Sie an die Startbahn, den Zitronenfalter, die Inklusion im Kindergarten, auch zwischen Jung und Alt. Oder an die Öffnung durch die Gastronomie in der Stadt, um Begegnungen zu ermöglichen. All das ist sichtbar neu. Auch die Inklusion in der Grundstufe der Antonius von Padua Schule – ein hessenweit einzigartiges und sehr erfolgreiches Modell. Da zeigt sich, dass der Gedanke von antonius bei den Eltern angekommen ist. Diese sehen, wie der Kontakt mit sehr unterschiedlichen Kindern die Entwicklung ihrer Kinder voranbringt. Dass sie Unvollkommenheit erleben in einer scheinbar perfektionistischen Welt. Dass nicht dem Materiellen, sondern der Mitmenschlichkeit die größte Bedeutung zukommt auf dem Weg zu dem Ziel, das wir alle teilen: nämlich glücklich zu leben.
Maria Rang gründete 1902 die St. Lioba-Stiftung, ide heute Bürgerstiftung antonius : gemeinsam Mensch heißt
Je mehr man im Sozialen erreichen will, desto mehr Mittel braucht man. Woher kommen die Mittel für dieses entscheidende Mehr?
Um die Aufgaben von antonius – auch in Anbetracht der Veränderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen – dauerhaft erfüllen zu können, brauchen wir eine wirtschaftlich stabile Existenzgrundlage. Eine Quelle dafür sind die sozialen Transfers, die wir von der Kommune und dem Landeswohlfahrtverband erhalten. Diese fließen wohlgemerkt in vollem Umfang an die Menschen – nicht an die Einrichtung! Was aber zusätzlich finanziert werden muss, das sind bei antonius die notwendigen Mittel für solche Angebote, die über den engen Bereich der Sozialförderung hinausgehen. Denn das, was antonius an Öffnung und Lebenschancen bietet, ist weit mehr als nur eine Grundversorgung. Wir wollen Familie im Großen sein, eine Gemeinschaft, die den Einzelnen trägt und ihm Wege bahnt. Das können wir nur, wenn wir weitere finanzielle Quellen erschließen. Dieser Aufgabe hat sich die St. Antonius-Stiftung als Förderstiftung verschrieben. Sie ist Bindeglied zwischen antonius und der Bürgerschaft. Da gibt es die zahlreichen Zuwendungen, die Privatpersonen zur Aufgabenerfüllung beisteuern. Das müssen keine großen Summen sein. Aber es zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind, und von den Menschen der Region bei der Umsetzung unserer Ideen getragen werden. Alle, die antonius unterstützen, sei es im Ehrenamt, durch Spenden oder Vermächtnisse, sind aber nie nur Gebende. Jeder und jede bekommt etwas zurück, denn Geben heißt immer auch Empfangen. Letzteres hat oft sogar noch mehr persönliche Bedeutung als das Geben selbst. Auf diese Weise ist die Beziehung der antonius-Gemeinschaft in die Bürgerschaft auch emotional lebendig und fruchtbar. Auch sind wir froh und sehr dankbar dafür, dass Unternehmen und deren Familien beachtliche Projekt-Patenschaften übernommen haben. Ein überaus starkes Signal für Social Responsibility und Menschlichkeit. Des Weiteren erwirtschaften wir Erträge in Eigenleistung. Denn Eigenverantwortung ist für uns bei antonius ein hoher Wert. Das bedeutet: Die Menschen, die bei antonius leben, wirken selbst mit an der Umsetzung des Stiftungsauftrags. Auf diese Weise entwickeln sie ein Selbstwertgefühl. Ihr Beitrag zählt für das Ganze.
Können Sie Beispiele nennen?
Nehmen wir den antonius Hof: Dort arbeiten traditionell viele Bewohner des Hauses. Ein solcher Betrieb muss so geführt werden, dass Aufwand und Ertrag am Ende einen positiven Saldo ergeben. Dieser Saldo leistet dann einen Beitrag für das Gelingen des ganzen Organismus. Oder die Bäckerei: Wenn es gelingt, über den Verkauf unseres Bio-Brotes im Einzelhandel einen Deckungsbeitrag zu generieren, ist das ein Beitrag für das Ganze. Mit allem, was wir herstellen und vermarkten, beweisen wir zudem, dass wir ein weites Feld an Tätigkeiten für Menschen mit Behinderungen vorhalten, bei denen diese erleben, was sie können, etwa beim Füttern der Tiere, bei der Feldarbeit, beim Töpfern im Gestalten- Werk, beim Brotbacken oder beim Kaffeeservieren. Wir belegen damit auch, dass wir den Willen haben, möglichst viel aus eigener Kraft aufzubringen. Nur wer so denkt und handelt, kann auch glaubwürdig Spendengelder einsetzen.
Nochmal zu den Spenden: Wie gelingt es, auch Personen zu gewinnen, die große wirtschaftliche Kraft haben und entsprechend viel bewegen können?
Menschen, die uns verbunden sind, spenden kleine, auch mal größere Beträge. Dafür sind wir ebenso dankbar wie für das Mitwirken zahlreicher Ehrenamtlicher. Neu ist: Heute erkennen immer mehr Unternehmen, dass der wirtschaftliche Erfolg, den sie durch eigene Leistung erzielen, in einer Gesellschaft erbracht wird, in der es nicht nur Starke, sondern auch Schwächere gibt. Deshalb sehen sie es als ihre Aufgabe, auch freiwillige soziale Verantwortung zu übernehmen. In den letzten Jahren konnten einige größere Projekte nur verwirklicht werden, weil starke Unternehmer antonius unterstützt haben. Ich hoffe, dass es im Sinne unserer Zukunftssicherung noch weitere solcher Partnerschaften geben wird. Auch hier lebt das Prinzip des Gebens und Empfangens, denn es fließt immer etwas in die Unternehmen zurück, zum Beispiel bei Projekttagen für die Auszubildenden jener Unternehmen. Dadurch ergeben sich für die jungen Menschen ganz neue Sichtweisen. Sie lernen das Leben in seiner Vielfalt kennen. Sie erfahren, dass es ganz andere Lebensentwürfe gibt und dass diese Menschen dennoch glücklich sein können.
Viele Bürger denken noch in Kategorien der staatlichen Wohlfahrt und verstehen nicht, warum neben dem sozialen Denken auch das wirtschaftliche Denken wichtig ist. Wie würden sie kritischen Stimmen begegnen, die fragen: Braucht es so viele antonius-Betriebe?
Bei uns gilt der Grundsatz: Das Wirtschaften ist nie Selbstzweck. Es dient dazu, die Hilfs- und Förderangebote für behinderte Menschen dauerhaft zu sichern. Auch in der Weise, dass antonius Initiativen unterstützt, die den Geist der Stiftung auch an anderen Orten aufleuchten lassen. Dadurch entsteht vielleicht der fälschliche Eindruck, antonius verbreite sich unangemessen. Diese Bewertung bleibt aber an der Oberfläche. Schaut man genauer hin, sieht man, dass all diese örtlichen Initiativen einzig dafür da sind, behinderten Menschen Mitwirkungsräume zu geben und das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung zu ermöglichen.
Wie lässt sich ein so verzweigtes Netzwerk organisatorisch zusammenhalten?
Das ist gar nicht so kompliziert. Im Zuge der dezentralen Umsetzung unseres Stiftungsauftrags haben wir die Verantwortung auf mehrere Schultern gelegt. Wir haben zum einen vier Bereiche gebildet und dort die bisherigen Mitarbeiter in eine Leitungsfunktion gestellt. Zum anderen arbeiten in jedem der vier zugehörigen Aufsichtsgremien ehrenamtlich Menschen mit, die eine große Kompetenz aus ihrem Berufsleben und aus ihrer Firma mit einbringen. Das ist ein unglaublich wertvolles Reservoir, was antonius von dort an Expertise und Engagement zufließt.
Wo könnte antonius in 30 Jahren stehen?
antonius wird in 30 Jahren nur dann lebendig sein, wenn wir wirtschaftlich erfolgreich bleiben und dabei zugleich unsere Verbindungen in die Bürgerschaft hinein intensivieren. Aber all das wird nur gelingen, wenn der Geist von antonius auch in 30 Jahren noch ansteckend wirkt. Das bedeutet, dass wir nicht den Fehler machen dürfen, isoliert auf die einzelnen Handlungsfelder zu schauen. Wir sollten uns vielmehr immer fragen: Ist der Kerngedanke, die Intention dieses „Gründerzentrums“, auch heute lebendig? Das Haupthaus, in dem wir uns befinden, ist ein weithin sichtbares Zeichen dafür, dass hier eine Gemeinschaft lebt, die Anziehungskraft und Wärme ausstrahlt, so wie sein warmer Backstein – trotz der monumentalen Größe des Gebäudes. Wenn dieser Geist überleben soll, und er wird überleben, dann müssen die verschiedenen Einheiten, wo immer sie auch sind, von diesem Zentrum geistig und geistlich genährt werden. Die Nabelschnur zwischen dem Zentrum und den peripheren Einrichtungen muss immer bestehen bleiben.
Ein wichtiges Ziel: Räume schaffen, in denne Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam wirken können
Wie gelingt das?
Damit sind wir bei den Menschen. Es wird nur gelingen, wenn dem Führungskreis und allen Beschäftigten dauerhaft bewusst ist, dass es auch ein Geschenk ist, hier mitwirken zu dürfen. Für antonius zu arbeiten ist kein Job, das ist ein Stück weit Berufung. Wenn dieses Empfinden unsere Gemeinschaft durchströmt, wird der Geist von antonius erhalten bleiben. Hier kommt es sehr drauf an, besonders bei der Auswahl der leitenden Mitarbeiter, dass sie diese Haltung verkörpern. Damit dieser Geist lebendig bleibt, müssen wir mit Blick auf den Gründungsauftrag auch dafür Sorge tragen, dass der christliche Gedanke weiterhin erlebbar und sichtbar ist. Deswegen sind wir zum einen so dankbar dafür, dass, nachdem die Vinzentinerinnen über Jahrzehnte hinweg die Leitungsfunktion innehatten, mit dem indischen Orden der Dienerinnen der Armen nun Nachfolgerinnen hier sind, denen man ihr Lebensideal auch abnimmt. Zum anderen gehört dazu die seelsorgliche Betreuung durch die Franziskaner. Die Franziskaner haben uns dankenswerterweise in 21 Perioden Patres geschenkt – von Anfang an bis heute zu Pater Thomas. Es ist unser großer Wunsch, dass dies erhalten bleibt. antonius braucht diesen geistlichen Impuls.
Das Gespräch führte Arnulf Müller
Freund, Netzwerker und Türöffner Dr. Alois Rhiel hat eine langjährige Verbindung zu antonius
- Erstes Kennenlernen des St. Antoniusheimes als Kind und Jugendlicher im Rahmen von Verwandtschaftsbesuchen bei Sr. Maria Natalia Rhiel. Sie wurde nach ihrem Tod auf dem Friedhof von antonius beigesetzt.
- Erste offizielle Begegnung bei antonius kurz nach seinem Amtsantritt als Fuldaer Bürgermeister im Herbst 1984 anlässlich des 80-jährigen Jubiläums von antonius. Nachfolgend viele fachliche Kontakte als Sozialdezernent der Stadt.
- Gemeinsame Zeit als tegut-Vorstand mit dem jungen Kollegen Rainer Sippel, der von dort aus auf die Position des antonius-Geschäftsführers berufen wurde.
- Anfang 1998 Mitbegründer der St. Antonius-Stiftung und Mitglied in deren Beirat. Seit dem Amtsantritt als Oberbürgermeister hat seine Frau Christiane bis heute diese Funktion inne.
- Während der Zeit als Oberbürgermeister, Wirtschaftsminister und danach bis einschließlich 2020 Mitglied im Kuratorium von Perspektiva.
- Vorsitzender des antonius Kuratoriums von 2011 bis 2019.
- Seit 2019 bis heute in der Nachfolge von Dr. Christoph Kind Vorsitzender der 120-jährigen Bürgerstiftung antonius : gemeinsam Mensch (vormals St. Lioba-Stiftung).