St. Barbara macht Hoffnung
von Claus Müller von der Grün
Sankt Barbara steht auf einer Anhöhe im Ortsteil Neuhof-Ellers. Eine großzügige Treppenanlage führt hinauf zum weiten Portal mit den kupfernen Toren. Der Turm steht – weithin sichtbar – abseits der Kirche und überragt die umliegenden Gebäude, auch den der evangelischen Kirche in der Nachbarschaft.
Sankt Barbara steht auf einer Anhöhe im Ortsteil Neuhof-Ellers. Eine großzügige Treppenanlage führt hinauf zum weiten Portal mit den kupfernen Toren. Der Turm steht – weithin sichtbar – abseits der Kirche und überragt die umliegenden Gebäude, auch den der evangelischen Kirche in der Nachbarschaft. Keine zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges blühten das Land, seine Gesellschaft und die Wirtschaft auf. Ellers sollte mit der Kaliindustrie wachsen und die prosperierende Kirchengemeinde brauchte mehr Platz, denn Sankt Michael im Ortsteil Opperz aus dem 19. Jahrhundert genügte den zahlreichen Kausalien nicht mehr: Immer mehr Trauungen, Taufen und Requien wurden gefeiert.
In dieser Zeit wurde Sankt Barbara Anfang der 1960er-Jahre gebaut und 1963 von Bischof Bolte geweiht. Mehr als hundert Kirchen hat dieser Bischof in seiner Amtszeit geweiht, und namhafte Künstler statteten sie aus. Schwester Lioba Munz, eine Benediktinerin, schuf ein Lebensbaumkreuz für Sankt Barbara, die Monstranz und den Tabernakel mit Bergkristallen. Die Ikonographie des 14 Meter breiten Mosaiks hinter dem Hochaltar von August Peukert aus Hanau macht die Kunst zur Zeitzeugin, wenn nicht zur Prophetin: Neben dem Heiland startet – oberhalb eines Planeten – eine Rakete ins Universum, auf der anderen Seite des Herrn steht der Mond als Sichel am Himmel. Erst 1969 betrat zum ersten Mal ein Mensch den Mond.
Keine Frage: Mit diesem Neubau hat die Kirche ein Zeichen gesetzt in einer Zeit des ungetrübten Positivismus. Gut ein halbes Jahrhundert später ist Sankt Barbara abermals ein Zeichen der Zeit. „Diese Kirche ist dauerhaft geschlossen“ heißt es auf dem welkenden Papier im Aushang vor dem Portal. Im Oktober 2018 wurde die Kirche profaniert. „Sie war voll besetzt, wie ich sie nie gesehen hatte, und die Feier war emotional“, erinnert sich Pfarrer Dr. Dagobert Vonderau an den letzten Gottesdienst in Sankt Barbara, als die Reliquien aus den Altären und das Allerheiligste aus dem Tabernakel entnommen wurden und als das Ewige Licht in dem Bauwerk für immer verlosch. „Der Kopf sagte: Ja, das Bauwerk ist nicht zu halten, doch im Herzen der Menschen sah es anders aus, denn die Kirche ist für viele ein Ort an zentralen Punkten ihrer Biographie. Und es gab Menschen, die hatten sich für das Bauwerk und die Orgel engagiert und Spenden gegeben.“ Der Profanierung war eine Diskussion um einige der physischen Baustellen der Gemeinde vorausgegangen: Welche abgängigen Bauwerke waren zu halten, welche nicht? Andree Literski, Sprecher des Pfarrgemeinderats, hatte den Prozess über das Jahr 2017 moderiert. Für Sankt Barbara gab es keine Rettung.
Der physische Niedergang des Bauwerks hatte in Wahrheit schon mit seiner Errichtung begonnen: Schäden am Dach traten auf, Feuchtigkeit zog in die Wände und schließlich gab der Stahlbeton unter der Last der erst spät eingebauten Orgel nach und die Empore samt Orgel musste abgestützt werden. Parallel zum baulichen Verfall trat von Mitte der 1970er-Jahre an ein gesellschaftlicher Wandel immer deutlicher zutage. Der einstige Aufbruch neigte sich binnen einer Dekade in einen Umbruch und die Kirche leerte sich. Am Ende zählte der Pfarrer am Sonntag nur noch 80 bis 90 Gemeindemitglieder in dem großen Kirchenschiff, das Platz für 450 bot. Die Antworten im Dialog der Gebete und Gesänge zwischen dem Priester und den wenigen Gläubigen kamen gar nicht mehr am Altar an. Die Kirche verstummte.Auch das war ein Zeichen.
Nun aber könnte der Niedergang wiederum in einem Umbruch münden. Denn die Diskussion um die Aufgabe von Sankt Barbara als Kirche führte im Sommer 2018 geradewegs zur Gründung des Vereins Leben und Arbeiten in Neuhof, und zwar durch einen Kreis engagierter Gemeindemitglieder, den Pfarrer und Vertreter von antonius. Heute hat der Verein schon mehr als 60 Mitglieder.
Pfarrer Vonderau spricht vom Versuch einer Kooperation, um zumindest auf dem Gelände von Sankt Barbara, aber vielleicht auch in jenen Teilen des Kirchbaus, die zu retten sein könnten, inklusives Leben und Arbeiten zu ermöglichen. Vorbilder sind die Vereine Leben und Arbeiten in Eichenzell und Leben und Arbeiten in Poppenhausen. Björn Bierent, der Leiter von Leben und Arbeiten in Eichenzell, berichtet von den Erfolgen dort. 2017, sieben Jahre nach der Vereinsgründung, zogen Menschen mit Behinderung in das Herrenhaus eines alten Gutshofes ein. Die Gemeinde Eichenzell, die Feuerwehr und weitere Vereine nutzen andere Gebäude des Hofes. Einem wertvollen Ensemble, das sonst zu einem Schandfleck verkommen und wohl verfallen wäre, wurde ein wahrlich belebender Sinn gegeben. Der Weg dorthin, wie ihn Björn Bierent schildert, war gewiss nicht einfach. Es gab auch Hindernisse und ein Zerwürfnis, aber am Ende viel mehr Unterstützer als Gegner. Der Gutshof ist ein Schmuckstück und strahlendes Beispiel für die gelungene Innenentwicklung eines Dorfes, indes „der größte Teil der Bevölkerung für das gemeinsame Leben und Arbeiten mit Menschen mit Behinderung aufgeschlossen ist“, berichtet Björn Bierent.
Gemeinsam zu feiern, ist offenbar das beste Therapeutikum, damit Leben und Arbeiten gemeinsam gelingen. „Wir schaffen Bedingungen für Begegnungen, aus denen Beziehungen entstehen“, schildert Björn Bierent das Konzept. „Dann ist der andere nicht der Behinderte, der Dicke, der Doofe, der Reiche, der Arme oder der Ausländer, sondern er wird zu einem Menschen mit einem Namen und mit Eigenschaften. Wenn wir im Herrenhaus zu Kinoabenden einladen, zum Cocktail- oder Weinabend, wenn wir immer wieder Party feiern und unsere Räume zum Beispiel für die Kirchengemeinde öffnen, dann werden aus Fremden ganz schnell Mitmenschen.“ Der Verein schaffe Wohnraum und Begegnung. Dann entstünden auch Arbeitsplätze. „In Poppenhausen ist der vergleichbare Verein nun zehn Jahre alt, und es gibt dort etwa zehn Familienbetriebe, die bereit waren, für die Menschen mit Behinderung auf einem Biohof, in einer Werft für Segelflugzeuge, in der Logistik und der Gastronomie Arbeitsplätze zu schaffen. Dort, wo sich Leben-und-Arbeiten-Vereine bilden, werden sie zu Türöffnern für Menschen mit Behinderung. In Eichenzell haben wir schon 150 Mitglieder, und die Politik begegnet uns überall mit Offenheit und Dankbarkeit, denn ein solcher Verein hilft, dass wir als Gesellschaft alle Menschen in der Gemeinde in den Blick nehmen, nicht nur die Menschen mit Behinderung. Es entsteht Achtsamkeit."
Auf diesem Wege - allerdings unter anderen Vorzeichen und mit eigenständigen Lösungsansätzen - wollen nun auch die Neuhöfer versuchen, den Gemeinsinn in ihrer 11.000 Einwohner zählenden Gemeinde entscheidend zu beleben.“ Es scheint, als setzte Sankt Barbara, indem ihr maroder Baukörper aufgegeben wird, abermals ein Zeichen. Nicht ein Symbol der Hybris oder eines vorschnell gefeierten Triumphes, sondern als gehe durch den Niedergang von Stahl und Beton ein stiller Impuls aus, der die Menschen berührt hat.
Katholisch heißt schließlich allumfassend. Der Begriff zieht den Kreis ganz weit um alle Menschen. Und Kirche bezeichnet nicht nur ein Bauwerk, sondern eine Gemeinschaft, die der Glaube an eine Botschaft in einem Ziel zusammenführt. Sankt Barbara macht Hoffnung. In den Fugen zwischen den Waschbetonplatten am Kirchenportal keimt frisches Grün und Björn Bierent spricht von der „Auferstehungssymbolik".