Über die Kunst des Aufhörens
von Arnulf Müller
Um ein paar Sätze über das Aufhören zu schreiben, muss man zunächst anfangen. Anfangen, darüber nachzudenken, was es mit dem Aufhören auf sich hat. Es mag seltsam scheinen, darüber nachzudenken. Schließlich fangen alle mit irgendetwas einmal an – und hören damit auch wieder auf. Weil sie nicht weitermachen können, dürfen oder wollen. Manchmal auch ohne ersichtlichen Grund. Und hört nicht alles einmal auf? Hört es nicht auch auf, zu regnen? Der Vogel auf zu fliegen? Das Lebendige auf zu leben?
Einen Hinweis, dass es nicht ganz so einfach ist, gibt das Sprichwort, das uns mahnt, nicht irgendwann aufzuhören, sondern wenn es am schönsten ist. Offenbar gibt es richtige und falsche Zeitpunkte. Man kann zu früh oder zu spät aufhören, wohl auch auf gute oder weniger gute Weise. Das Sprichwort setzt voraus, dass wir das Aufhören steuern und gestalten können, mehr noch, dass es Ausdruck unserer Souveränität sein sollte. Wir selbst und nicht andere sollten bestimmen, wann und wie wir mit etwas aufhören. So scheint das Aufhören in den Bereich dessen zu gehören, was wir „Lebenskunst“ nennen.
Dass es so ist, offenbaren Situationen, in denen das Aufhören misslingt: Wenn jemand in einer Spielrunde die Karten über den Tisch wirft und geht; wenn ein Abteilungsleiter mit dem bevorstehenden Ruhestand nicht klarkommt und er die Übergabe torpediert; wenn ein Präsident eine reguläre Wahl anficht und seine Leute aufstachelt, den Amtssitz zu stürmen. Es gibt unzählige Arten, beim Aufhören zu scheitern. Meist stimmt etwas mit der Person nicht, meist liegt etwas Ungelöstes, Unversöhntes in ihrem Aufhören. Die häufigste Art des Schiefgehens aber liegt im Verpassen des richtigen Zeitpunktes beziehungsweise in der Unfähigkeit, überhaupt aufzuhören: Wenn ein Flieger spürt, dass Sehkraft und Konzentration nachlassen, er aber den Pilotenschein nicht abgeben will; wenn der 80-jährige Firmenpatriarch Sohn oder Tochter nicht zum Zug kommen lässt; wenn jemand beim Feiern kein Ende findet und er zuletzt die Schüssel umarmt; wenn der Pianist nach der achten Zugabe nur noch das Reinigungspersonal vorfindet.
Bleiben wir kurz dabei: Was hat der Pianist verpasst? Wie hätte der schönste Moment ausgesehen? Vielleicht wäre es derjenige gewesen, bei dem das Publikum noch ein Quäntchen Wehmut empfunden hätte, dass es nun zu Ende ist. Nach einem tollen Konzert gab es zwei Zugaben, dann war Schluss. Das Fehlen einer dritten wurde bedauert, doch es überwog der gute Nachklang, den alle mit auf den Heimweg nahmen. Über diesen Punkt ist der Pianist „spielend“ hinweggegangen. Die Leute verließen den Saal, aber er hat, so sagt es die Sprache, nicht auf-gehört. Er war so sehr der Spielende, dass er nicht auch der Hörende war.
Nur selten fällt auf, wie bildreich dieses Wort ist: das Auf-hören. Es erzählt davon, dass mehr geschieht als nur ein Stoppen. Die Person erfährt etwas, das sie veranlasst, etwas zu beenden. Nehmen wir eine alltägliche Situation: Ein Kind entdeckt, dass beim Schaben eines Löffels am Heizkörper ein aufregendes Geräusch entsteht. Selbstvergessen reibt es Metall an Metall, steigert sich hinein und läuft immer schneller am Heizkörper hin und her. Die Mutter sagt: „Lass das!“ Sie fürchtet Kratzer am Lack und übellaunige Nachbarn, doch ihre Worte dringen nicht durch. Irgendwann platzt ihr der Kragen. Sie herrscht ihr Kind an: „Jetzt hör endlich auf!“
Natürlich will sie nur, dass ihr Kind das Spiel beendet. Sie sagt es dem Worte nach aber nicht, sondern versucht, einen Zustand herbeizuführen, in dem es überhaupt ansprechbar ist. Mit der Wendung „Hör auf!“ reißt sie das Kind aus der Versunkenheit, welche für das intensive Spielen kennzeichnend ist. Jetzt merkt es, was es tut und was dies bei anderen bewirkt. Idealerweise lässt es dann von selbst ab. Die Forderung aufzuhören, respektiert die Freiheit der Person. Es ist kein bloßer Befehl, sondern eher ein Appell, auf sich selbst aufmerksam zu werden. Das bloße „Lass das!“ oder „Schluss jetzt!“ ist vom Wort her gebieterischer.
Im normalen Sprachgebrauch hören wir diese feinen Unterschiede heute nicht mehr mit. Vor Jahrhunderten verflachte die Bedeutung, und weil irgendwann nur noch das Beenden anklang, konnte das Wort dann auch das Zuendegehen eines Naturvorgangs bezeichnen, etwa das Aufhören des Regens.
Vielleicht ist es gut, hin und wieder auf die ursprüngliche Bedeutung zu achten. Mit der Fähigkeit, auf sich selbst und auf äußere Zeichen zu achten, steht und fällt die Kunst des Aufhörens. In der Welt der Erwachsenen sagen wir einander selten, dass es an der Zeit wäre, mit etwas aufzuhören. Höflichkeit beißt sich mit Ehrlichkeit. Sagt es uns jemand, haben wir den besten Zeitpunkt meist verpasst.
Wir sollten uns daher hin und wieder selbst ans Aufhören erinnern, denn es stellt unser Tun auf die Probe: Erfüllt es mich noch oder ist es mehr Gewohnheit? Will ich das, was ich seit so langer Zeit tue, immer weiter machen? Was bleibt auf der Strecke, was bleibt ungelebt?
Auch in anderer Hinsicht scheint ein Innehalten geraten: Bin ich auf dieser Position, in diesem Amt wirklich unersetzlich? Ist mein Beitrag noch so innovativ wie zu Anfang? Welche Freiräume und Möglichkeiten könnten für andere oder für die Firma durch mein Aufhören entstehen?
So zu fragen, passt jedoch schlecht in unsere Zeit. Fakt ist, dass wir in einer Kultur des Fortschritts leben, die das Weitermachen aus Prinzip belohnt – manchmal über Gebühr. Festhalten am eingeschlagenen Weg, lebenslanges Engagement bei derselben Firma, im selben Verein – beliebter Stoff für Heldengeschichten und Anlass zur Verleihung von Ehrenbriefen. Wer wagt es, Zweifel anzumelden? Dabei spürt jeder, dass es besser ist, sich kürzer und intensiver einer Sache zu verschreiben, als ein Leben lang mit halber Kraft an denselben Sachen zu hängen.
Sicher, Biografien lesen sich zunehmend variantenreicher. Beruflich hören Menschen mit etwas auf, weil sie sich „neu orientieren“ wollen, „Herausforderungen suchen“. Aber oft ist das Aufhören nur die Trittstufe für ein Weitermachen in derselben Art. Kaum einer wagt es, mit etwas aufzuhören, wenn er nicht schon das Neue in der Tasche hat. Groß ist auch die Angst, die anderen könnten das Aufhören als ein Scheitern interpretieren. Aber vielleicht ist das Beste am Aufhören genau dieser freie Raum, den es schenkt, diese produktive Unsicherheit, das freie Durchatmen und Sich-in-Frage- Stellen, aus dem eine Neubestimmung erwachsen kann. Dazu braucht es Mut.
Aufhörend zu leben, wach zu werden für die Zeichen, die uns zur Veränderung rufen – das ist offenbar wirklich eine Kunst. Doch wer sie beherrscht, bei dem hat auch das Weitermachen Gewicht.