„Und ganz viel Mensch“

Soziale Arbeit in Blankenau

Es gibt Situationen, da brodelt es in uns, weil wir unter Druck geraten. Doch wir ringen um Fassung – und bewahren sie. Wir wissen aber auch, was es heißt, die Fassung zu verlieren. Jemand büßt die Herrschaftüber sich ein, Affekte übernehmendie Regie, Hilflosigkeit macht sich breit.

Es gibt Situationen, da brodelt es in uns, weil wir unter Druck geraten. Doch wir ringen um Fassung – und bewahren sie. Wir wissen aber auch, was es heißt, die Fassung zu verlieren. Jemand büßt die Herrschaft über sich ein, Affekte übernehmen die Regie, Hilflosigkeit macht sich breit. Nach einer Weile sieht er wieder klarer. „Er hat sich wieder gefasst“, sagen die anderen dann. Unser Leben als Person steht und fällt mit dem Ringen um Fassung. Wir wollen auch nicht, dass andere sie einbüßen. Da sagt die Ehefrau zu ihrem Mann: „Bitte, verlier nicht wieder die Fassung!“ Oder der Arzt zu einem Angehörigen: „Sie müssen auf das Schlimmste gefasst sein.“ Es gibt aber Menschen, deren Zustand so instabil ist, dass sie immer und immer wieder die Fassung verlieren und keiner es verhindern kann – die nichts und niemandem mehr vertrauen können, oftmals nicht einmal sich selbst.

Gemeint sind die sogenannten Systemsprenger: Personen, bei denen engagierte Pädagogen und erfahrene Therapeuten reihenweise scheitern und selbst Spezialeinrichtungen abwinken, um ihre Arbeit mit den „Normal-Schwierigen“ nicht zu gefährden; Personen, die aufgrund geistig-seelischer Abweichungen sich und andere gefährden und derart extrem reagieren, dass auch das Umfeld die Fassung verliert.

Blicken wir nach Blankenau, einem Ortsteil von Hosenfeld. Völlig unscheinbar steht die Villa aus den 80ern am Ortsrand, ein weißer Klinkerbau mit bürgerlicher Ausstrahlung. Drei Menschen wohnen hier dauerhaft im großräumigen Erdgeschoss. Damit dies funktioniert, sind dreizehn Personen in wechselnden Schichten im Einsatz – seit zwei Jahren nun. „Im Moment ist alles gut, es gibt nur wenige verzweifelte Momente“, sagt Lukas Moeller. Er ist Inklusionsnetzwerker bei antonius und hat das Projekt mit aufgebaut. Verzweifelte Momente gab es im ersten Jahr zuhauf, denn es begann mit Tiefpunkten in allen drei Biografien.


Bürgerliche Villa mit Mehrwert: das „Kropphaus“ in Blankenau

Als sich der Zustand von Ute Kettler* nach ihrer Verrentung dramatisch verschlechterte, war ihre WG bei antonius überfordert. Beim Versuch, einen Wohnplatz für sie zu finden, hagelte es bundesweit Absagen. Zu krass war ihr Verhalten: Manchmal schrie die Frau mit Autismus-Spektrum- Störung mehr als zehn Stunden am Tag in ohrenbetäubender Lautstärke. Keine Nacht schlief sie durch, ohne erkennbaren Grund kratzte sie, trat oder biss. Und das Schlimmste: Aus dem Nichts schlug sie ihren Kopf ins Gesicht des Gegenübers. Trotz Zwei-zu-eins-Betreuung wirkten keine Maßnahmen. „Sie musste Tabletten nehmen, das reichte für eine komplette Einrichtung.“ Lukas Moeller weiß, dass er übertreibt, aber er weiß auch, dass die Wirklichkeit unsere Vorstellungskraft bei diesem Thema regelmäßig übersteigt.

Mit Herz dabei: Sozialarbeiter Lukas Moeller

SIE BRAUCHT RUHE, ERTRÄGT ABER KEINE

Mit der Entscheidung, sie in das Wohnprojekt aufzunehmen, konnte ihr der finale Aufenthalt in einer Forensischen Psychiatrie erspart werden. Trotz ihres hohen Alters glaubten die Beteiligten an eine Entwicklung und waren nicht bereit, sie als Mensch fallenzulassen. Kettler kann nicht sprechen und kommuniziert nur über Laute. Das erschwert die Sache. Um ihr Leben erträglich zu machen, braucht es einen stabilen Rahmen und es braucht Begleiter, die ihr trotz extrem belastender Situationen nie etwas persönlich nachtragen. Menschen wie sie haben durch häufige Wechsel des Betreuungspersonals und andere Kommunikationsabbrüche so viel Vertrauensverluste erlitten, dass sie sich kaum mehr auf etwas einlassen. Doch hier in Blankenau ist alles auf Langfristigkeit ausgelegt. Die Mitarbeiter wissen, dass sie eine gewaltige Verantwortung übernehmen, wenn sie sich erneut als ihr seelischer Anker anbieten. Ute Kettler wird von inneren Spannungen geplagt. Kleinste Dinge, die sich im Umfeld ändern, überfordern sie. Einerseits braucht und sucht sie Ruhe, andererseits erträgt sie keine. In den ersten Wochen wurde extrem kleinschrittig gearbeitet: 5 Minuten schwimmen, 5 Minuten Sofa, 5 Minuten malen, 5 Minuten Sofa, 5 Minuten Wäsche sortieren, 5 Minuten Sofa. Kettler sollte erleben, dass sie auf dem grünen Sofa liegen kann, ohne dass ihr etwas geschieht. Sowie ein Gefühl von Unsicherheit aufkam, wurde sie aggressiv, wurde sie Opfer ihrer dunklen Fantasien und schrie sich die Seele aus dem Leib. Da genügte es nicht, zu Ohropax zu greifen. Ihre Begleiter zogen zusätzlich Kopfhörer auf.

Kommunikationshilfen für Menschen, die nicht lesen können oder gehörlos sind

Grenzsituatioenn zu bewähltigen, ist hier Tagesgeschäft

Tagsüber hangelt sie sich von Mahlzeit zu Mahlzeit, von Tabletteneinnahme zu Tabletteneinnahme. Ihr Feind ist die Zeit dazwischen. Ein Tag, an dem ein Zahnarzttermin ansteht, ist ein sehr leichter Tag. Es ist klar, was passiert, Zeit vergeht, alles ist gut. Phasenweise fühlt sie sich auch auf ihrem Sofa sicher. Man kann ihr viele Dinge erzählen: Wer morgens Dienst hat, wer abends, wann Ostern ist, wann Weihnachten. Sie atmet regelmäßig, manchmal anderthalb Stunden lang. Plötzlich klingelt der Nachbar und fragt: „Habt ihr den Müll rausgestellt?“ Der Tag ist gelaufen. Sie überkommt eine unfassbare Unruhe und beschäftigt sich intensiv mit der Müllabfuhr: „Wann kommt sie? Wo muss die Tonne hin?“ 200-mal fragt sie mit Gebärden und Lauten danach und verfängt sich darin. Man muss antworten und zugleich versuchen, die Dauerschleife zu durchbrechen. Kürzlich hat sie in ähnlicher Situation ihren Kopf gegen die Wand gehauen. In solchen Momenten ist alles kaputt, die Aufbauarbeit beginnt von vorne. „Da braucht es eine Stellschraube Medizin, etwas Pädagogik und etwas Psychologie. Und ganz viel Mensch“, sagt Moeller. Oft hilft die Schaffung neuer Situationen, Ablenkung also. „Komm, wir fahren zur Kirche und stecken eine Kerze für die Mama an.“ Nach zweijährigem Training und ganz viel bestätigtem Vertrauen bewahrt sie nun immer öfter die Fassung. Seit einem Jahr gibt es keine Aggressivität gegenüber Fremden und weit weniger gegen sich selbst. Sie ist stabil – solange sie wie ein rohes Ei behandelt wird.



DAS GEGENTEIL VON EINEM BÖSEN, GEWALTBEREITEN MENSCHEN

Auch der Weg von Marcus Bendt* führt bergauf. Der junge Mann, der stets mit seiner Körperbalance und dem Sprechen kämpft, hat etwas Gewinnendes. Er sucht Kontakt und kennt auch viele Leute, die ihn wirklich mögen. Doch die wenigsten kennen ihn ganz. Am Ende der Pubertät kam sein Leben vom Kurs ab. Immer weniger konnte er seine Energie und seinen Kraftzuwachs kanalisieren. Er wurde reizbar und zugleich unsicher. Bald galt er als unberechenbar, Eskalationen häuften sich, Ausbildungsversuche wurden abgebrochen. Sieben Polizeieinsätze hat er hinter sich, zuletzt brauchte es sechs Beamte, um ihn zu überwältigen. Wiederholt landete er in der Akutpsychiatrie, wo er die traumatische Erfahrung machte, fixiert und sediert zu werden. Der Staatsanwalt schaute bereits um die Ecke. So war der Wohnplatz in Blankenau seine letzte Chance. Als Bendt in der Villa eintraf, saß er im Rollstuhl, zusammengesunken, deprimiert, vollgepumpt mit Medikamenten. Moeller erzählt von der tränenreichen und aufreibenden Zeit am Anfang. Bendt konnte keine Minute allein sein, er war ohne Medikamente unfassbar unruhig. Die vielen Ablehnungserfahrungen haben ihn extrem misstrauisch gemacht. Er sucht das Gespräch, ist aber stets auf der Lauer, alles in Erfahrung zu bringen, was ihn betreffen könnte. Informationen sind sein Lebenselixier, aber auch das größte Risiko. Lukas Moeller spricht vertraut mit ihm, auch über sensible Punkte. Die beiden sind ein Team, Augenhöhe ist hier nicht nur ein nettes Wort. Dennoch wägt Moeller grammgenau ab, was ein Wort auslösen könnte. „Marcus ist die Presse, ich der Politiker“, scherzt er. Ein unbedachtes Wort führt dazu, dass es in Marcus Bendt rumort. Drei Tage denkt er über das Gesagte nach, dann platzt die Bombe in einem ganz anderen Zusammenhang. Bendt ist das Gegenteil von dem, was man einen bösen, gewaltbereiten Menschen nennt. Er versucht nie, etwas durchzusetzen, indem er sauer wird, er testet oder provoziert niemanden. Seine Gewaltausbrüche sind schlicht die Folge einer Fehlschaltung im Gehirn und Ausdruck innerer Fragilität. Jeder Ausbruch tut ihm unendlich leid, wochenlang hadert er und kommt mit seinem Versagen nicht klar. Solche Situationen vorher zu erkennen, ihm Handlungsalternativen aufzuzeigen und ein Setting zu schaffen, in dem eine solche Aufheizung gar nicht erst stattfindet, das ist die mühsame Aufgabe. Geht es dennoch schief, braucht es diese stabile Beziehung, um glaubhaft zu machen: „Du brauchst nicht wieder in die Psychiatrie!“ In Blankenau erfährt er, dass sein Umfeld ihm keine Schuld zuschreibt, wenn er die Fassung verliert, selbst dann nicht, wenn die Begleiter etwas abbekommen. Grenzsituationen zu bewältigen, ist hier Tagesgeschäft. Unlängst wurden im Erdgeschoss die Türzargen ausgetauscht. „Die federn das jetzt besser ab“, erklärt Moeller gelassen. Gelassenheit ist ebenso wichtig wie ein kontrollierter Umgang mit Emotionen. Wer Marcus Bendt aufbauen und trösten will, muss es mit klarer Stimme tun und ohne sich anzubiedern. Ein forscher Klapps auf die Schulter, das ist Zuwendung nach seinem Geschmack. Wenn es inniger sein soll, muss es von ihm selbst kommen. Dennoch muss der Begleiter seine ganze Person investieren. „Jeder Professor würde sagen: Es ist wahnsinnig unprofessionell, so nah dran zu sein. Aber wenn ich solchen Menschen helfen will, muss ich mit ihnen in der Suppe stehen. Sonst komme ich nicht an sie heran. Erst wenn Erfolge da sind, darf ich mich langsam wieder rausnehmen.“


AUCH SO VERLIEREN MENSCHEN IHRE FASSUNG

Während Ute Kettler und Marcus Bendt explosive Persönlichkeiten sind, ist der Dritte im Bunde das Gegenteil. „Daniel Gass* ist der passivste Mensch, den man sich vorstellen kann“, erklärt Moeller. Holt man ihn nicht von der Toilette runter, bleibt er vier Stunden darauf sitzen. Das ist weniger lustig, als es klingt. Er hat Autismus mit einer Zwangsstörung, kann nicht sprechen, ist gehörlos. Seine Begleiter kommunizieren mit ihm über Bilder, Karten und Handzeichen. Was er erlebt, sind zu 80 Prozent Rituale. Je geregelter die Tagesstruktur, desto glücklicher wirkt er. Deswegen versucht das Team, genau das sicherzustellen. Niemand verstellt Sachen im Zimmer, jeder respektiert seine peinliche Ordnung. Alles hat einen festen Platz. Um Gass zu entlasten, sind farbige Umrisse auf die Regalböden geklebt. Das hilft ihm, die Dinge in ihre gewünschte Lage zu bringen. Gleiches vor der Dusche, damit er weiß, wo die Schuhe geparkt werden. Würde er selbst einen Ort suchen, würde es Stress auslösen. In seiner früheren WG mit zwölf Personen war das Leben für ihn kaum erträglich. Da gab es morgens Zeitdruck, weil vier Leute zur Arbeit mussten. Also wurde auch er „beschleunigt“. Trotz aller Forderung nach Selbstbestimmung ist Gruppenzwang manchmal unvermeidlich. Dass seine Mitbewohner Daniel Gass‘ spezielle Diagnose nicht verstehen konnten, führte zu weiteren Problemen: Der eine schnipselte begeistert Papier klein, Gass musste es seinem inneren Zwang folgend sofort wegräumen. Der andere speichelte, Gass wischte es auf. Er war in der Opferrolle. Wenn er zu sehr unter Druck geriet, machte er aufgeregte Geräusche mit seinem Kehlkopf und riss sich die Fingerinnenhäute auf. Auch so verlieren Menschen ihre Fassung: still, nach innen gekehrt. In Blankenau erlebt er nun Entspannung. Von Marcus Bendts Ausbrüchen ist er wenig beeindruckt, und das Schreien von Ute Kettler kann er ohnehin nicht hören. Inzwischen geht er mit einem Therapiehund spazieren und kommt aus seiner Passivität heraus. Zudem gib es im Haus ein Schwimmbad, in dem er die „zufällig“ ins Wasser gefallenen Bälle wieder herausfischen kann – fein säuberlich nach Farben sortiert.

NOCH KEIN KOLLEGE, BEI DEM ES NICHT MAL TRÄNEN GAB

Als Irmgard und Willi Kropp, Bauunternehmer und Gesellschafter der Mediana-Häuser, ihre private Villa für einen sozialen Zweck spendeten, wussten sie nicht, wer dort einmal wohnen würde. Drei Menschen haben nun durch die intensiv begleitete Wohnform eine Art seelische Heilung erfahren. Auf die Frage nach dem hohen Aufwand und den Kosten antwortet Moeller: „Klar kostet das sehr viel Geld. Aber Polizeieinsätze und Psychiatrieaufenthalte kosten die Gesellschaft genauso viel. Dann lieber etwas mit Perspektive.“ Personal zu finden, das nicht nur überdurchschnittlich belastbar, sondern auch mit Herz dabei ist, gestaltet sich nicht einfach. „Die Leute finden uns“, erklärt Moeller. Darunter sind auch Quereinsteiger, die vom Typ her einfach das Richtige mitbringen. “Es war noch kein Kollege hier, der nicht mal an dem Punkt war, wo Tränen kamen, weil er nicht mehr konnte.“ Aber wenn sie auf den zurückgelegten Weg schauen und erkennen, wohin die Reise noch gehen könnte, halten sie durch. Im Grunde bräuchte es mehr solcher Projekte, denn viele Menschen in ähnlichen Lagen bekommen keine letzte Chance. Menschen mit leichten Behinderungen sind inzwischen völlig akzeptiert in der Gesellschaft. Eine Lobby für Leute wie Ute Kettler, Marcus Bendt und Daniel Gass gibt es nicht. Noch nicht.

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