Vom Aufbrechen und Ankommen

Zurückhaltend, fast scheu blickt die junge Frau um sich. Das meiste in diesem Land ist ihr fremd, manches wirkt beängstigend. In nur kleinen Schritten tastet sie sich voran, und doch liegt in ihren Augen auch Entschlossenheit: 

Sie möchte in Deutschland richtig ankommen, hier ein neues Leben aufbauen.

Frehiwot Danele musste ihr Heimatland Äthiopien verlassen. Als ihr Vater starb und es mit der Stiefmutter nicht funktionierte, sah sie keine Alternative. Sagt sie. Doch ganz gleich, ob darüber hinaus auch Armut und berufliche Perspektivlosigkeit sie zu diesem Schritt getrieben haben – ohne Not kappt niemand seine Wurzeln. Wie ausgespuckt kam sie am Frankfurter Flughafen an, mutterseelenallein und ohne Kontaktadresse. 

Frehiwot wurde zunächst in einer Erstaufnahmestelle untergebracht, später einer Jugendhilfeeinrichtung in Fulda zugewiesen. Im dortigen Wohnheim hat sie ein eigenes Zimmer, das nach ihrer Ansicht schon sehr schön eingerichtet ist: „Ich habe alles, was ich brauche: einen Schrank, ein Bett, einen Teppich.“ Nachbarn schenkten ihr später noch einen alten Sessel. Sie bedauert, dass sie nichts aus Äthiopien hat mitbringen können. Nicht einmal ein paar Fotografien. In ihrem Zimmer hängt einzig ein Bild der heiligen Maria. „Aber dies“, sagt sie, „hilft mir, gegen meine Einsamkeit anzukämpfen“. Frehiwot zieht ihre Kraft aus ihrem Glauben, geht gerne in den Dom, um zu beten. Allein. Als äthiopisch-orthodoxe Christin sind ihr die römisch-katholischen Glaubensformen fremd. Und doch ist es ein Anknüpfungspunkt.

Frehiwot möchte gerne Teil einer Gruppe werden, nicht mehr „die Fremde“ sein. Das wichtigste Instrument hierzu ist im Moment das Erlernen der deutschen Sprache: Freunde findet man nur über die Sprache, und nur über Freundschaften kommt man wirklich im fremden Land an. „Hoffentlich bekomme ich das alles hin“, sagt sie und fügt mit einem Lächeln hinzu: „Aber die Winter hier sind echt schwer für mich. Ich habe immer kalte Füße. So kalt habe ich mir das nicht vorgestellt.“

Auch die sozialen und kulturellen Unterschiede stellen eine Hürde dar. Es befremdet Frehiwot zutiefst, dass es in Deutschland Einrichtungen gibt, in denen ausschließlich alte Menschen leben. Die Alten gehören doch in die großen Familien, wo die Kinder um sie herumspringen! Das sagt sie nicht, aber ihr Lächeln verrät es. Doch die anmutige Äthiopierin passt sich an und sammelt nun genau in einer solchen Einrichtung erste Berufserfahrungen. An einem Tag in der Woche unterstützt sie die Mitarbeiter und Bewohner im Wohnstift Mediana: deckt den Tisch, bereitet mit ihnen das Essen zu und begleitet die Senioren in ihrem Alltag. Die Bewohner des Seniorenstiftes scheinen ihre dezente, warmherzige Art zu mögen. Eine Ausbildung zur Altenpflegerin machen zu dürfen, ist nun ihr vordringlichster Wunsch. Am liebsten hier im Mediana.

Eingefädelt wurde das Praktikum von der Richard-Müller-Schule in Fulda. Dort besucht Frehiwot Danele mit 15 anderen jungen Menschen die sogenannte Integrations-Klasse. Das ist im Grunde eine normale Schulklasse, jedoch mit einem Unterschied: Die Schüler sind alle in unterschiedlichen Ländern aufgewachsen, in Somalia, Afghanistan, im Sudan oder in Syrien - dort also, wo ihnen aufgrund ihrer Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe Verfolgung, Armut, manchmal auch Folter drohten. Nach einer kräftezehrenden Flucht sind sie schließlich in Fulda angekommen und tragen häufig einen Rucksack voll schlimmer Erlebnisse mit sich.

In der Schule werden sie auf all die Dinge vorbereitet, die sie zum Bestehen auf dem deutschen Arbeitsmarkt benötigen: Deutsch, Mathematik, Englisch und soziale Kompetenzen, wie Pünktlichkeit und Teamfähigkeit. Eine ganze Gruppe von Pädagogen ringt darum, ihnen den schwierigen Übergang in die deutsche Gesellschaft und Arbeitswelt möglichst reibungsarm zu gestalten. „Das war am Anfang manchmal gar nicht einfach, da galt es, sich mit Händen und Füßen zu verständigen“, erinnert sich Uta Dörr, die sich um die Vermittlung der jungen Flüchtlinge in Praktika kümmert. Alles muss abgestimmt werden, mit den Jugendlichen selbst, ihren zuständigen Betreuern (die meisten Jugendlichen sind ja minderjährig) und mit den Unternehmen, die bereit sind, einen Praktikumsplatz an sie zu vergeben.

Hasib Ghafoori versucht seine Lebenssituation über seine Besuche im Fitness-Studio in den Griff zu kriegen. Hasib macht sich stark, und das im doppelten Sinne: „Durch das Training bekomme ich Kraft für den Körper und den Kopf.“ Da passt es gut, dass Beratungslehrer Matthias Diegelmann ihm ganz aktuell eine Praktikumsstelle in einem Fitness-Studio vermitteln konnte. Diegelmann glaubt, die Konstellation könnte gut passen: Fitnessstudio-Betreiber Ali Öztürk steht Menschen mit Migrationshintergrund, auch wegen seiner eigenen Herkunft, sehr offen gegenüber. Und Hassip bekommt die Gelegenheit, ein Arbeitsfeld nah an seinen Interessen kennenzulernen.

Hasib wirkt cool und stark. Er strahlt nicht zuletzt durch seine Statur großes Selbstbewusstsein aus. Er will, dass seine Familie stolz auf ihn sein kann, und hofft, sie später einmal aus der Ferne unterstützen zu können. Doch auch ihm fällt der Weg in ein eigenes Leben nicht immer leicht. Nach seiner Flucht aus Afghanistan war er zwei Jahre lang nicht mehr in der Schule. Deshalb musste er sich nicht nur an seine neue Umgebung, sondern auch wieder an einen geregelten Schulalltag gewöhnen. Eine große Hilfe sind ihm die neuen Freunde, die er in Deutschland kennengelernt hat. Viele von ihnen kommen auch aus Afghanistan und wissen, wie es in Hasib aussieht.

Auf die Frage nach seinem größten Wunsch, zögert er. Vielleicht einen schnellen Computer oder eine eigene, größere Wohnung? Hasib antwortet nicht. Dann bestimmt ein schickes Auto? Stille. Und dann ganz von innen heraus: „Ich möchte meine Eltern besuchen!“

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