Von der Angst des Straßenmusikers

Vier Besorgungen auf dem Zettel, Parkuhr läuft. Hemd und Schnürsenkel sind abgehakt, das Buchgeschenk ist umgetauscht, jetzt noch die neue Brille abholen. Im Stechschritt Richtung Uniplatz.

Offenbar geben alle Gas an diesem Dezembernachmittag, zumal es dunkelt. Doch unvermittelt wickelt sich ein feiner Sound um meine Ohren: „If I were a carpenter“, der alte Tim Hardin-Song aus den Sechzigern. Zeitreise. Na, das ist doch mal was! 

Vor dem Rathaus sehe ich nur die Rücken von lauschenden Passanten. Aber die warme Stimme und ein gepflegtes Picking auf der Westerngitarre entfalten magnetische Kraft. Muss ein Profi sein. Außerdem klingt sein Englisch überraschend englisch. Pirsche mich ran. Da kauert er auf einem roten Falthocker: Ende fünfzig, Lederjacke, fingerlose Handschuhe und eine etwas skurrile Wollmütze auf dem Kopf. Ohne Pause hängt er die nächste Nummer an. Könnte von James Taylor sein. Geschmeidig rollen seine Finger über die Saiten. Endlich mal nicht dieses schroffe Herumschrubben, wie man es oft dargeboten bekommt. 30–40 Leute in dieser Jahreszeit anzulocken ist enorm. Zwei Kinder stürmen, von den Eltern geschickt, nach vorne, es klimpert im Gitarrenkoffer. Ein Passant wünscht sich „Streets of London“ – das musste ja kommen. Doch der Barde bringt es routiniert und nicht zu sentimental rüber. Respekt! Nach zwei weiteren Songs legt er die Gitarre zur Seite, eine Gelegenheit, ihn anzuquatschen. „Kannst du ‚Streets of London‘ überhaupt noch hören?“, frage ich etwas provokant. „Die ersten 100.000 Mal ging´s noch, aber jetzt ...“ Wir lachen. „Nein, da habe ich kein Problem mit, die Leute fragen danach.“ Wir reden übers Repertoire: irische Sachen, Folk, Jazz; es fallen eine Reihe bekannter Namen. Probleme hat er mit Cat Stevens, dem er seinen Wandel nicht abgenommen hat. Justin Bieber ist natürlich auch tabu.

Dass er Engländer ist, hört man sofort, dennoch frage ich nach: geboren und aufgewachsen in London; in der Thatcher-Zeit Elektroakustik studiert, kein Jobangebot, außer bei Electrolux Staubsauger zu reparieren. Viel Frust. Dann Urlaub in Frankreich gemacht und über die Straßenmusik „ein Fräulein“ kennengelernt aus Nürnberg. Es zieht ihn nach Deutschland, und er bekommt ein Engagement in der bekannten fränkischen Band Saitenspinner. Gute Zeiten dort. Es folgen Stationen in Spanien, Schweden, Teneriffa. Ruhe kommt in sein Leben, als er eine Festanstellung als Bassist am badischen Staatstheater Karlsruhe erhält. Doch eine Schulterverletzung aufgrund eines Unfalls reißt ihn wieder aus der Sicherheit heraus. Seit sechs Jahren spielt er nun in Fulda. Wie er heißt, möchte ich wissen. Er reicht mir eine Autogrammkarte. „George St. George“ steht da in roten Lettern. „Und, das bedeutet?“ „Nichts“, lächelt er. Ob er gerne auf der Straße spielt, will ich wissen. Das Gespräch nimmt eine überraschende Wendung:

„Ich bin ein leidenschaftlicher Straßenmusiker, aber wenn ich losziehe, habe ich Angst.“

Er berichtet von bitteren Erfahrungen mit Ordnungshütern, die mit durchgedrücktem Brustkorb mitten in seine Darbietung platzen: „Sie müssen SOFORT aufhören!“ Als er in Bad Kissingen wagt, sein Lied dennoch zu Ende zu spielen, versucht ein Polizist, ihm den Stecker aus der Gitarre zu ziehen. Weil er sich wehrt, durchsuchen sie ihn nach Drogen. Noch schlimmere Dinge hat er in Würzburg erlebt. Auch deshalb wirft er seine Angel lieber im hessischen Fulda aus. „Die Menschen hier sind zu 99 % super nett, die Stadt hat wirklich eine freundliche Ausstrahlung“, schwärmt er. Doch auch hier klemmt es zuweilen. Im Sommer spielte er, umringt von fast hundert Zuhörern, auf dem Buttermarkt; Pizzeria und Eisdiele füllten sich rasch, nachdem er angefangen hatte. Alsbald klingelte beim Ordnungsamt das Telefon – fünf Minuten später: aus die Maus. „Wo bleibt die Demokratie? Ein anonymer Anrufer gegen hundert, die es hören wollen!“ Was ihn am meisten enttäuscht: Die Leute drehen sich einfach weg. Als sie zuerst auf ihn aufmerksam wurden, dachten sie: „Oh, wie romantisch, ein Straßenmusiker.“ Jetzt, wo es ernst wird, denken sie: „Schade, aber das geht mich ja nichts an.“

Langsam realisiere ich, dass die Sache einen ernsten Hintergrund hat. Er kann kaum von seiner Hutgage leben und bewegt sich ständig in einer Grauzone. Ein Dauerproblem ist sein kleiner Drei- Watt -Verstärker, der mit einer 12 Volt-Batterie betrieben wird. Ohne diesen würden die fein gezupften Töne vom Winde verweht, kein Mensch würde stehen bleiben. Gerade weil er sein Spiel so verfeinert hat, braucht er eine dezente Verstärkung:

„Wenn man brüllen muss, geht alles kaputt.“

Was einer darf und was nicht, ist im „Merkblatt für Straßenmusikanten“ geregelt. George kramt den Zettel mit der Fulda-Lilie hervor: maximal 45 Minuten am selben Platz, Pausen sind Pflicht, der Verkauf von CDs ist untersagt, ebenso die Verwendung eines Tonverstärkers. „Wenn jemand eine offizielle Genehmigung für eine Promotion Veranstaltung auf dem Uniplatz hat, dürfen die Bässe aus riesigen Subwoofern bis in die hintersten Gassen wummern. Das ist alles so willkürlich.“ George wirkt angefressen. Dabei wirkte sein Auftritt so entspannt, strahlte Zufriedenheit aus. Mein Versuch, das Gespräch auf leichteres Terrain zu lenken, gelingt nicht. „Der Arsch ist immer der Straßenmusikant“, bricht es heraus. An der fehlenden Lobby sind natürlich auch seine „Kollegen“ schuld, die kaum ihr Instrument beherrschen und den Leuten auf die Nerven gehen: „Die spielen in sechs Stunden zwölfmal den Schneewalzer“. Er hat nichts gegen musizierende Bettler, aber die musikalisch getarnte Bettelmafia macht viel kaputt. „Los Parasitos“ nennt er sie zynisch. Mit ihren riesigen Verstärkern bringen sie seinen Berufsstand in Misskredit. Er weiß, dass er gereizt reagiert, „aber das ist klar nach so viel bitteren Jahren. Ich will nichts außer ein bisschen Respekt.“ Wie wenig ihm davon entgegengebracht wird, spürt er, wenn Leute ihm anbieten, abends auf ihrer Party zu spielen „für 50 Euro, zwei Bier und ’ne Suppe.“ So etwas verletzt. Er liegt niemandem auf der Tasche, geht nie zum Sozialamt und will nicht als Penner oder Bettler angesehen werden.

„Ich will als qualifizierter Mensch geachtet werden, der einen ‚unique service‘ anbietet.“

Auf eine Einladung, beim Stadt- oder Weinfest auftreten zu dürfen, wartet er seit Jahren vergebens. Als George wieder zur Gitarre greift, höre ich aufmerksamer zu. „Ein lustiger Hut ist kein Ersatz für Talent“, hat er vorhin gesagt. Stimmt, denke ich, bei ihm ist es umgekehrt. Sein hartes Training und seine Qualitätsansprüche sind klar zu spüren. Auf dem Weg zum Optiker wird mir bewusst, dass die jeweilige Färbung einer Stadt nicht allein von Häusergiebeln und schmuckem Fachwerk abhängt. Wichtiger ist, ob man sie als etwas Lebendiges erlebt.

„Ein lustiger Hut ist kein Ersatz für Talent.“

Wo einem Kleinkunst begegnet, ist viel gewonnen. Kleinkunst kann nichts groß kaputt machen, eher umgekehrt: Sie nimmt den Durchreisenden für eine Stadt nachhaltig ein. Kein Fremdenverkehrsprospekt erzielt solche Tiefenwirkung. Ein Straßenmusiker bewirkt eine Veränderung der Atmosphäre. Er wagt sich aus der Deckung und erzeugt etwas, das leicht zerstört werden kann: durch fremde Geräusche, plötzlichen Wetter umschwung, anonyme Anrufer und einen missgelaunten Ordnungshüter. Man erwartet vom Künstler, dass er sensibel ist und zugleich dass er ein dickes Fell hat. Auf dem Rückweg mach ich einen Schlenker, um noch zwei weitere Songs einzuatmen. Ein älterer Herr geht still vorbei und zeigt ihm den aufwärts gerichteten Daumen. Als George erneut eine Pause einlegt, hake ich nach. Gibt es denn gar keine positiven Erlebnisse? Doch. Er mag den Austausch mit Leuten, ihr positives Feedback, die spontanen Reaktionen von Kindern. Ein Highlight war sein Auftritt beim Luckenberg-Festival im letzten Juli. Da hatte George einen stillen Zuhörer, der um die Ecke beim Franzosen speiste. Weil er vom Sound und der Stimmung angetan war, ließ er irgendwann beim Veranstalter anfragen, ob er auch mal spielen dürfe. Es war Chris de Burgh, der auf Durchreise war. Gut gelaunt schnappte dieser sich Georges Gitarre und schmetterte einem verblüfften Publikum zwei seiner Evergreens entgegen. Natürlich ist es auf Youtube zu bestaunen. Als er umjubelt die Gitarre wegstellte, flachste George:

„Hey Chris, du bist nicht schlecht, ich glaube, du könntest es weit bringen!“ Musikerscherze.
Ob ich über ihn schreiben darf, frag ich noch. „Warum nicht?“ Zuletzt kaufe ich ihm eine CD ab. „George the Third“ steht drauf. Ein Lächeln, ein kurzer Wink. Gelassen entferne ich den Strafzettel von der Windschutzscheibe.

von Arnulf Müller

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