Vorwort

Vom Verlust des Anstandes
Auf der Suche nach „Anstand“ bei Wikipedia finde ich einige dürre Sätze und sachlich kraftlose Definitionen.

Erstaunlich, wo doch Wikipedia sonst selbst zu belanglosen Themen mit umfänglichsten gelehrten Texten aufwartet. Ist das ein Spiegelbild unserer gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Lage?

Wenn ehemals in ihrer Bedeutung so klare Worte derartig zu verschwinden drohen, ist es meist lohnend, bei den Brüdern Grimm anzufragen. In ihrem deutschen Wörterbuch von 1854 ist Anstand schlicht das, was sich schickt. Allerdings kommt dem Begriff nach ihren Recherchen diese Bedeutung erst seit dem 18. Jahrhundert zu. Zuvor bedeutete Anstand neben dem Anstehen des Jägers vor allem das Anstehen des Krieges, also Waffenstillstand.

So sehr sich die Interpretationen von Anstand unterscheiden mögen, Anstand bezieht sich immer auf ein Gegenüber. Und das ist nicht erst seit dem 18. Jahrhundert so. Schon bei Seneca lesen wir: „Was das Gesetz nicht verbietet, verbietet der Anstand.“ Und die meisten der zehn Gebote sind Anstandsregeln. Du sollst Vater und Mutter ehren, du sollst nicht töten, lügen, kein falsches Zeugnis geben. Sie kennen das. Aber was genau ist guter Anstand? Aufrichtigkeit? Ja. Respekt? Nicht immer. Loyalität? Kommt darauf an. Flüchtlinge verängstigen und ihre Notbleibe anzünden? Auf keinen Fall.

Der Sinn für Gerechtigkeit und Anstand ist eine angeborene menschliche Tugend. Es muss uns nicht erst jemand sagen, dass persönliches Wohlergehen und das einer Gemeinschaft zusammenhängen. Wir müssen als Kinder nur lernen, wann und wie wir unseren Sinn für Gerechtigkeit und Richtigkeit einsetzen können und sollen. Die Erfahrung, dass Anstand heute eine hinderliche Tugend ist, die Selbstverwirklichung und Gewinnmaximierung einschränkt, und fehlende gesellschaftliche Zustimmung können dazu führen, dass diese Empfindung verlorengeht. Ist es das, was wir gerade erleben?

Gerhard Brommer, österreichischer Komponist, Musiker und Kabarettist, bringt es so auf den Punkt: „Es gibt drei Dinge, die sich nicht vereinbaren lassen: Intelligenz, Anständigkeit und Nationalsozialismus. Man kann intelligent und Nazi sein. Dann ist man nicht anständig. Man kann anständig und Nazi sein. Dann ist man nicht intelligent. Und man kann anständig und intelligent sein. Dann ist man kein Nazi.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

In diesem Sinne ... Machen Sie keine falschen Seitenwechsel.

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