Warten auf Annahme
Einer der regelmäßig stattfindenden Kinderarzttermine steht an: Seit fünf Jahren immer dasselbe, sowohl für meinen Sohn als auch für das Praxisteam:
Wir betreten die Praxis, melden uns an und werden in Warteraum 1 geschickt, ein Blick – andere warten – mein Sohn wird diesen Raum nicht betreten.
Seit fünf Jahren immer dasselbe, sowohl für meinen Sohn als auch für das Praxisteam: Wir betreten die Praxis, melden uns an und werden in Warteraum 1 geschickt, ein Blick – andere warten – mein Sohn wird diesen Raum nicht betreten.
Wie sonst auch, wollen wir das Wartezimmer 2 betreten, erfahrungsgemäß ist da seltener einer, der wartet.
Stopp – Warteraum 2 ist nur für Säuglinge!
Da ist es wieder – vier Jahre sind wir da, regelmäßig, und die Diagnose meines Sohnes – High-Functioning-Autismus – löst in einer Praxis für Neuropädiatrie bei der Arzthelferin kein Verständnis aus. Ich mag nach diesen vielen Jahren nichts mehr erklären, zeige seinen Behindertenausweis – 100 % schwerbehindert – wir melden uns zum Warten in das Treppenhaus der Praxis ab.
Es dauert nicht lange, und wir können zum EKG. Das Labor ist leider gerade besetzt, wir gehen wieder ins Treppenhaus. Immer mehr Patienten kommen und gehen, die Treppenhaustür ist unangenehm laut. Das stört sogar mich. Mein Sohn wird immer unruhiger, das Warten wird zu einer Zerreißprobe, im wahrsten Sinne des Wortes. Bleibt mein Sohn hier, oder muss er abtauchen in seine Welt, weil er es hier in dieser Welt nicht mehr aushält?
Ich beruhige ihn. Wir sind ein gutes Team. Täglich kommen wir im Verstehen der Welt des anderen näher. „Schau aus dem Fenster, ich bin da.“ Wir warten weiter und weiter. Mein Sohn ist sehr angespannt. „Mama! Mach was, ich spring sonst aus dem Fenster.“ Nein, das tut er natürlich nicht, er greift sich an den Kehlkopf und drückt zu. Die Alarmsignale sind eindeutig. Warten müssen wir, da hilft alles nichts. Also ändere ich die Situation und gehe wieder hinein. Zielstrebig gehen wir zu Warteraum 2 und werden auch nicht aufgehalten. Schade – besetzt. Wir bleiben im Flur, aber auch das ist nicht erwünscht. Aber wohin? Keine Hilfe in Sicht. Mein Sohn fängt an, seine Spannung abzubauen, eine gute Strategie. Aber gegen Wände treten ist auch nicht erwünscht und Schimpfworte auch nicht. Jetzt ist das Labor endlich für uns frei!
Ein „Guten Morgen“ kommt von der Frau, die mit dem Rücken zu uns steht. Ein normal lautes und ein ganz leises „Guten Morgen“ sind die Antwort. Die Frau dreht sich um, sieht meinen Sohn direkt an und ein noch lauteres „Guten Morgen“ fliegt ihm um seine manchmal so empfindlichen Ohren. Er zuckt zusammen, schaut mich an, und bleibt, wie wunderbar, an seinem Platz. Es reicht mir jetzt.
„Sie haben gerade seine Akte studiert. Können Sie mit der Diagnose etwas anfangen? Dann dürfte Ihnen bewusst sein, wenn Ihnen ein Autist „Guten Morgen“ sagt, wenn auch ganz leise, dann ist das wunderbar.“ Die Frau wird leicht rot.
Die Blutentnahme läuft gut, man weist uns darauf hin, noch einen Termin für das EEG zu machen. Machen wir, einen anderen Termin, denn drei Termine, verbunden mit viel Wartezeit sind für uns nicht zu leisten. Anders zu sein ist manchmal anstrengend – für alle.
Inklusion, das neue Wort, auch im Gesundheitswesen wird viel darüber geredet, aber den Inhalt umzusetzen fällt schwer. Inklusion beginnt im Kopf; um dann mit kleinen Schritten ins Handeln überzugehen.
Vielleicht in einem normalen Ablauf mal dem Anderssein einen Raum zum Warten zu geben.
Autismus wird von der Weltgesundheitsorganisation zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gezählt. Er wird von Ärzten, Forschern, Angehörigen und Autisten selbst als eine angeborene, unheilbare Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung des Gehirns beschrieben, die sich schon im frühen Kindesalter bemerkbar macht. Andere Forscher und Autisten beschreiben Autismus als angeborene veränderte Informationsverarbeitung, die sich durch Schwächen in der Kommunikation sowie durch stereotype Verhaltensweisen und Stärken bei Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Intelligenz zeigt. Man unterscheidet zwischen frühkindlichem Autismus (Kanner-Syndrom) und dem Asperger-Syndrom, das sich oftmals erst nach dem dritten Lebensjahr bemerkbar macht. Zur Abgrenzung der verschiedenen Ausprägungen und Symptome von Autismus, der verschiedene Schweregrade kennt, dient das Autismusspektrum (Autismusspektrums- Störung). Hier ist jedoch die genaue Abgrenzung schwierig, da die Verläufe eher fl ießend sind. Treten alle Symptome des frühkindlichen Autismus zusammen mit normaler Intelligenz auf, spricht man von High-Functioning-Autismus.