Was hat ein schiefer Baum mit Adonis zu tun – oder ein Heuschober mit Spitzensport?
Lutz Meissner, ein bekannter Physiotherapeut aus Fulda, hat in seinem Beruf vielfältige Erfahrungen gesammelt, sowohl mit körperlichen Einschränkungen als auch mit Spitzenleistungen, und er weiß: Scheinbare Gegensätze sind oft keine, und Balance ist etwas sehr Individuelles.
Herr Meissner, was hat Ihre Arbeit mit Balance zu tun – was verstehen Sie darunter?
Es gibt da ein altes orthopädisches Zeichen, das zeigt einen Baum, der schief wächst. Den trimmt man dann mit Bändern – pflockt ihn an – selbst wenn er danach einen Knick hat. Wir Physiotherapeuten sehen den Körper aber als Ganzes, legen besonderes Augenmerk auf seine Strukturen: die Haut, das Bindegewebe, die Faszien, die Muskeln und natürlich die Steuerung, das große und kleine Nervensystem. Das alles muss eine harmonische Einheit sein. Wenn man nur an einem Wirbel zieht, dann ist es wie bei dem Baum – er federt wieder zurück. Er muss vielmehr durch stetige Übung in die richtige Bahn gebracht werden, und das ist ein lang andauernder Prozess, den ich begleite.
Um beim Bild des Baums zu bleiben – ist es also manchmal sinnvoller, man lässt ihn ein bisschen schief wachsen, aber er fühlt sich wohl dabei?
Immer stur das Ideal anzusteuern ist falsch! Von 100 Menschen haben 97 Abweichungen, selbst der perfekte Adonis aus der griechischen Antike hat den Diskus immer mit derselben Hand geworfen und so Einseitigkeit erlangt. Wir schreiben mit einer Hand, hören oft einseitig besser, kauen unterschiedlich, riechen, schmecken oder sehen seitendominant. All das fällt bei jedem Menschen anders aus. Entscheidend ist es, das zu kompensieren. Ich muss dem Patienten bei seiner Kompensation helfen und nicht den Adonis zu 100 Prozent anstreben.
Regeneration ist die eine Seite Ihres Berufes. Sie beraten und behandeln aber auch Spitzensportler. Da ist ja eher „High End“ das Ziel.
Jeder Körper braucht ein adäquates Training, das er dann auch verkraftet. Wichtig ist das In-den-Körperhinein- Horchen. Wenn einer nach einem harten Training nicht mehr „kriechen“ kann, hat er etwas falsch gemacht. Die Anpassung muss stimmen – in der Regeneration wie in der Leistungssteigerung. Man darf nicht zu fokussiert sein. Sportler, die auch den Kopf nicht vernachlässigen, sind oft erfolgreicher, auch nachher im Beruf, weil sie das Gleichgewicht pflegen. Aus einer Gruppe von zehn Nachwuchs-Fußballern, die ich betreut habe, hat es einer an die Spitze geschafft – interessanterweise der Einzige, der gleichzeitig eine Banklehre durchzog, also auch den Kopf trainiert hat. Es gibt Studien, die belegen, dass immer gleiche Anforderungen und Reize einen Sportler sogar verletzungsanfälliger machen. Also braucht es auch hier Balance, nicht Einseitigkeit.
Ab wann ist Ehrgeiz nicht mehr „gesund“?
Das Erkennen und Akzeptieren eigener Grenzen gehört unbedingt dazu. Ich habe das selbst erfahren während meiner aktiven Leichtathletikzeit in Berlin. Während ich mich geschunden habe, ging mein Kollege im Sommer Mädels gucken und ins Schwimmbad. Er trainierte locker zwischendurch und zeigte mir beim Wettkampf trotzdem die Hacken. Das hat mich schrecklich geärgert. Aber es hilft nichts. Wenn die körperlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind, wird man seinen Körper eher zu Tode schinden, als die Spitze zu erreichen. Über die Drop-outs und die Burn-outs, die an eigenen oder fremden Ansprüchen Gescheiterten, spricht nachher keiner, sondern nur über die Erfolgreichen.
Ist in diesem Sinne ein guter Physiotherapeut ein „legales Doping-Mittel“?
Wir haben zum Teil eine Manie im Spitzensport. Da sagt der sensible Hürdenläufer oder Hochspringer: „Manipulier mich noch mal vor dem Wettkampf.“ Der braucht das knacksende Geräusch – und wenn es nur Spagetti in der Hemdtasche des Therapeuten sind (das ist die sogenannte Nudel-Therapie) Andere Sportler sind ganz bei sich und brauchen das nicht. Da ist vieles Kopfsache. Jeder muss für sich spüren, was ihm guttut. Es gibt Olympiasieger, die werden täglich behandelt, und es gibt welche, die wurden noch nie behandelt. Noch nie! Die Psyche spielt da eine ganz große Rolle.
Sie waren viel in anderen Kulturkreisen unterwegs. Was haben Sie davon mitgenommen?
Man ist natürlich immer versucht, seine deutsche Gründlichkeit auf andere zu übertragen, und das – so musste ich lernen – ist völlig verkehrt. Unterschiedliche Menschen und Mentalitäten kann man nicht gleichtrimmen. Das ist wie mit einer Religion – die kann man auch nicht über ein ganzes Volk stülpen. Gib den Menschen die Chance, sich selbst zu entwickeln! Der Kontakt mit anderen Kulturen war für mich ein riesiger Lernprozess. Da sind zum Beispiel die unglaublich grazilen Bewegungen eines Thailänders. Aber dessen Überbeweglichkeit geht zu Lasten der Stabilität. Im Fußball könnte der Thai mit seiner Eleganz jeden ausspielen. Wenn aber im Zweikampf der Ellenbogen rauskommt, hält er da nicht gegen. Warum? Das liegt an seiner Religion, dem Buddhismus. Er respektiert den Älteren, er respektiert den Gegner, nimmt sich zurück. Also muss man da an der Stabilität arbeiten und am Durchsetzungswillen, die Beweglichkeit ist ja schon vorhanden. Man muss jedem die Chance geben, sich aus sich selbst und aus seiner Kultur heraus zu entwickeln. Ich sehe öfter junge Leute, die mit hämmernden Beats in den Kopfhörern durch den Wald rennen, ohne die Natur wahrzunehmen. Denen möchte ich sagen: Bleib doch mal stehen, nimm wahr, was um dich herum ist! Hör mal in dich hinein auf deinen eigenen Rhythmus! Wer erfolgreich sein will, muss viel wahrnehmen können – auch sich selbst!
Und wie machen Sie das?
Wenn ich viel unterwegs bin, staut sich natürlich zu Hause die Arbeit, und es wird immer hektischer. Dennoch habe ich letzten Samstag z. B. eine vierstündige Bergwanderung gemacht. Über dem nebligen Inntal kam ich auf eine sonnenüberflutete Alm und habe mich in einem kleinen Heuschober niedergelassen. Die Gerüche, die warme Sonne, das bunte Laub ringsum in den Bergwäldern, die Ruhe – das alles habe ich lange nicht mehr so genossen. Das Einfache ist so viel mehr! Man muss eben nicht nur den Knochen, den Bändern und Muskeln Spiel lassen – dem Geist eben auch!
Martina Wirth