„Weil sie mich wahrnehmen"
Mara Heß erzählt von ihrem Leben
Was kann ich? Was mag ich? Was will ich? Wer bin ich?
Fragen, die sich wohl jeder Jugendliche stellt und die er in der Auseinandersetzung mit anderen zu beantworten versucht. Einige Jugendliche machen das eher im Stillen, andere stellen sich mit geschwellter Brust ins Rampenlicht und rufen: „Welt, hier bin ich!“
Eine aufreibende Zeit, so oder so, vor allem aber, wenn bei der Kommunikation mit dem Umfeld besonders große Hürden zu überwinden sind. Mara Heß weiß von solchen Hürden zu berichten.
Mein Name ist Mara Heß, ich bin 15 Jahre alt. Seit meiner Geburt sitze ich im Rollstuhl. Ich kann nicht alleine gehen, nicht alleine essen, ich muss also gefüttert werden, und ich kann nicht sprechen.
Ich gehe in die Heinrich-von-Bibra-Schule, das ist eine Realschule. Jeden Tag holt mich zuhause der Fahrdienst ab. Um 7:55 Uhr beginnt die Schule. An der Schule wartet meine Schulbegleiterin auf mich. Sie ist dreißig Stunden in der Woche für mich da und unterstützt mich. Zum Beispiel führt meine Begleiterin meine Hefte und schreibt etwas ab. Wenn ich mit meiner Begleiterin und anderen Mitmenschen sprechen will, benutze ich ein ABC-Blatt. Das ABC-Blatt ist eine große Tafel, auf der alle Buchstaben des Alphabets aufgeschrieben sind. Ich tippe mit der rechten Hand auf die Buchstaben und buchstabiere so Wörter. So mache ich auch im Unterricht mündlich mit. In Mathe hatten wir das Thema Geometrie und ich kann halt nicht zeichnen, aber ich kann Dinge beschreiben. Was ich sage, zeichnet meine Begleiterin dann auf.
Schulbegleiterin Monika Mlenkovski führt die Bücher, darf aber Maras Fehler nicht unter den Teppich kehren
Ich habe auch einen Computer mit Augensteuerung und den nutze ich, um etwas Schriftliches zu verfassen. Ich tippe den Text mit meinen Augen. Der Computer hat eine Sprachausgabe, man kann also geschriebene Texte vorlesen. Ich persönlich nutze lieber das ABC-Blatt, weil ich die Computerstimme unangenehm finde, da kein Leben in die Stimme reinkommt. Ich finde, die Computerstimme gehört nicht zu mir. Das ABC-Blatt geht einfach immer. Ich mag lieber, wenn Menschen mit mir buchstabieren, weil mir das eine Bindung gibt.
Meine Lehrerin besteht aber darauf, dass der Computer sprechen soll, weil anscheinend die Kinder denken, dass meine Begleiterin für mich alles macht. Wenn ich „Fehler“ mache, darf meine Begleiterin die aber nicht korrigieren, sie muss also alles genau so wiedergeben, wie ich es gesagt habe. Für sie ist das manchmal schwer. Die Arbeiten schreibe ich ganz normal mit der Augensteuerung und bekomme Noten. Aber ich bekomme einen Nachteilsausgleich, das heißt, mehr Zeit und gekürzte Aufgaben.
Mathe muss sein: Das Auge tippt die 5.
An zwei Tagen kommt meine Förderschullehrerin zu mir. Sie ist dafür da, die Themen mit mir zu festigen und sie organisiert Veranstaltungen. Sie unterstützt mich in den Hauptfächern.
In meiner Klasse sind fünfundzwanzig Kinder. Ich bin seit letztem Sommer in der Klasse und ich fühle mich da pudelwohl, weil sie mich wahrnehmen und mit mir sprechen wollen. Meine Förderlehrerin hat einen Rolli-Tag organisiert, damit die Kinder sehen, wie es ist, wenn man im Rollstuhl sitzt. In der Turnhalle wurden Hindernisse aufgebaut und die anderen Schüler mussten zu zweit durch die Schule. Jeder musste einmal im Rollstuhl sitzen und sie merkten, wie schwer manche Dinge im Alltag sind. Jetzt achten sie mehr darauf, dass sie die Türen aufhalten und die Stühle an die Tische ranschieben.
In der Pause bin ich mit meinen Freunden alleine und wir haben Spaß. Dann reden wir über verschiedene Themen und sie beziehen mich immer mit ein. Das finde ich ganz toll.
Pausenalltag: Spaß haben übers ABC-Blatt.
Meine Hobbys sind YouTube und Instagram. Instagram ist ein soziales Netzwerk, auf dem man Bilder zeigen und darüber sprechen kann. Ich habe einen eigenen Instagram-Account. Da poste ich Bilder, die ich gemalt habe. Ich habe eine Malen-nach-Zahlen-App. Diese App funktioniert so: Sagen wir mal, die Eins ist rot. Dann werden alle Einser-Felder grau unterlegt und ich tippe auf die grauen Felder. Dann wird das Feld rot. Ich male aber auch ganz eigene Bilder. Am liebsten mit Buntstiften. Beim Malen höre ich immer Mark Forster. Ich zeige meine Bilder auf Instagram, weil es mir Spaß macht und meine Freunde es auch machen. Ich benutzte auch oft WhatsApp. Das ist für mich wichtig, weil ich mit Leuten kommunizieren kann und sagen kann, was ich denke.
Nach der 10. Klasse würde ich zum Beispiel gerne Übersetzerin oder Bloggerin werden. Eine Bloggerin schreibt über ihr Leben und macht Werbung und verdient dadurch ihr Geld. Auf jeden Fall möchte ich etwas machen, das mit Texten zu tun hat, weil ich das am besten kann.
Auch für Mara findet Schule derzeit zu Hause statt - wegen Corona
Große Herausforderungen -
Ein Interview mit Antje Frotscher, Förderschullehrerin
Antje Frotscher arbeitet seit 26 Jahren als Förderschullehrerin. Um die zehn Kinder aus unterschiedlichen Schulen begleitet sie, teilweise kurzfristig, teilweise über mehrere Jahre. Mit Mara Heß arbeitet sie seit neun Jahren.
Frau Frotscher, welche besonderen Herausforderungen haben Jugendliche mit Behinderung im Umgang mit anderen Jugendlichen?
Jugendliche mit schweren körperlichen Behinderung stehen vor sehr, sehr großen Herausforderungen – sie müssen sich an die Welt der Nicht-Behinderten anpassen. An allgemeinen Schulen, in denen inklusiv beschult wird, haben sie oft kaum ähnlich Betroffene und sind immer ein bisschen darauf angewiesen, dass die anderen Schüler sie mitnehmen, sie beachten und sie einbeziehen. Das klappt manchmal wunderbar, aber es gibt auch einige Mobbingfälle und die Aufklärung dieser gestaltet sich oft als sehr schwierig. Daran arbeiten wir, zum Beispiel mit dem Rollstuhlfahrertag für Maras Klasse. Da geht es darum, Empathie herzustellen, den Blick zu weiten. Auch unter den Kollegen muss man den Gedanken der inklusiven Beschulung als gesellschaftliche Realität einbringen.
Jugendliche haben eine ganz andere Lebenswelt als Erwachsene. Wie macht sich dieser Unterschied bei Ihrer Unterstützungsarbeit bemerkbar?
In der Lebenswelt der heutigen Jugendlichen spielen Medien eine riesige Rolle. WhatsApp oder Instagram sind aus deren Leben nicht mehr wegzudenken. Für Mara sind das tolle Möglichkeiten, zu Wort zu kommen und sich mit Gleichaltrigen zu verständigen. Ich bin selbst ein Fan von WhatsApp, weil es die Alltagskommunikation mit Mara ungemein erleichtert. Mara schreibt mir, was sie in den Förderstunden üben muss, dementsprechend bereite ich mich darauf vor. Außerdem drehen sich die Expertenrollen dann auch mal um. Mara kann mir Tipps bei der Bedienung von WhatsApp geben, dann lacht sie sich zwar kaputt über mich, aber jeder hat dabei etwas gelernt.
Unterstützt vom maßgeschneiderter technik ein perfektes Team: Antje Frotscher udn Mara Heß
Die Jugend ist die Zeit, in man selbstständiger wird. Wer bin ich? Wo will ich hin? Was will ich beruflich machen? Wie schafft man es, Jugendliche mit Behinderung bei dieser Abnabelung zu unterstützen?
In den höheren Klassen haben die Schüler Praktika, die sie auf einen Beruf vorbereiten sollen. Gemeinsam mit den Eltern, unserem Arbeitscoach und der Agentur für Arbeit wird geschaut, in welchem Bereich man die Schüler, die inklusiv beschult werden, später einmal sehen könnte. Die Schüler erhalten von der Agentur für Arbeit eine Rehaberatung und ein psychologischer Test wird mit ihnen durchgeführt. Es wird getestet, wie belastbar sie sind und für welchen Bereich sie nach der Schulausbildung geeignet sind. Wir unterstützen auch noch den Übergang zu den weiterführenden Schulen. Erst dann klinken wir uns meist aus.
Das Interview führten Steffen Waßmann und Bastian Ludwig