„Weil wir es können"

von Arnulf Müller

Die kleine Zita steht vor vollendeten Tatsachen. „Ich wurde überhaupt nicht gefragt”, erinnert sie sich.
„Zack – war der Samuel da!”

Vier Tage, nachdem die Eltern ihr einen Bruder ankündigt haben, rumort es im Kinderbettchen. Doch die Freude springt schnell auf sie über. Sie weiß, dass auch sie einst adoptiert wurde.

Ute und Christof aus Fulda-Harmerz hatten gar nicht mehr damit gerechnet, ein zweites Kind zugesprochen zu bekommen.
Er ist 49, sie ein paar Jahre jünger. Am 22. Dezember 2016 klingelt das Telefon – sie bekommen eine Nacht Bedenkzeit. Aber nachdenken müssen sie nicht mehr. Längst haben sie sich für das entschieden, was die meisten Paare sich nicht vorstellen können.

Als sie am nächsten Tag zur Adoptionsstelle vom Sozialdienst der katholischen Frauen (SkF) gehen, wird ihnen gesagt, was bei der Geburt festgestellt wurde: Trisomie 21. Auf ihrem Antrag haben sie angekreuzt: Das Kind darf eine Behinderung haben. Nun also ein Junge mit Down-Syndrom. Am 6. Dezember 2016 wurde er geboren und kam zunächst in die Obhut einer Pflegefamilie. Ob sie ihn nun nehmen, werden sie nochmal gefragt. Sie haben das Kind nicht gesehen, wissen nur, dass es ein Junge ist ‒ und sagen Ja. „Es ist bei einer Adoption ja nicht wie beim Welpenkauf, wo man sagen könnte: Das Kind will ich jetzt doch nicht. Das wäre entwürdigend“, betont Christof. Empfanden sie es als eine Weihnachtsüberraschung? „Absolut!“, schießt es aus beiden hervor.

Ein großer Moment ist ihr erster Besuch in der Pflegefamilie Anfang Januar. Ute nimmt das fremde Kind erstmalig in die Arme. „Es ging ganz schnell ‒ und es war mein Kind“, erinnert sie sich. „Es war, wie ein gigantisches Geschenk zu bekommen, das man schon immer wollte. Und man wusste: Es ist ein gutes Geschenk.“ Auch ihr Mann schließt das goldige Geschöpf sogleich ins Herz und bewundert seine schwarzen Haare.

„Wie’s kommt, so kommt’s“

Zwei Wochen später nehmen sie den Säugling zu sich, obwohl die leiblichen Eltern ihr Sorgerecht erst nach einer Bedenkzeit von acht Wochen notariell abgeben können. So haben sie das Kind zunächst auf Widerruf und zählen jeden Tag, bis die Frist verstrichen ist. Schon in dieser Zeit nimmt das Leben Fahrt auf. „Es wurde lustig hier“, erzählt Christof. „Er war von Anfang ein Kind, das viel zurückgibt.“ Natürlich überlegen sie, was auf sie zukommen könnte. Vielleicht hat Samuel einen schlimmen Herzfehler und muss operiert werden, vielleicht hat er Krebs und wird gar nicht so alt. „Wir haben mit allem gerechnet und gesagt: Wie’s kommt, so kommt’s“, sagt Ute und fügt hinzu: „So kann es ja beim eigenen Kind genauso gehen.“

Auf das Downsyndrom haben sie sich nicht speziell vorbereitet. Der Junge ist gesund und braucht keine Behandlung ‒ ein ganz normales Baby eben, das die Familie auf Trab hält. Weil sie erst gar nicht die Erwartung haben, dass er sich adäquat entwickeln würde, vergleichen sie ihr Kind nicht zwanghaft mit Gleichaltrigen und freuen sich umso mehr über jeden kleinen Fortschritt. Irgendwann kommt es, das erste Wort, und als im Urlaub die ersten Schritte gelingen, feiern sie ein kleines Fest. „Viele denken, man müsse besondere Rücksicht nehmen, aber das ist nicht richtig“, so Christof. „Manchmal ist es anstrengend, aber wesentlich leichter als gedacht. Die bürokratischen Dinge, die unser Staat verlangt, waren viel anstrengender.“

Wer sich für eine Adoption entscheidet, muss in der Anfangszeit viel Fremdbestimmung ertragen. Auch nachdem die leiblichen Eltern ihren Verzicht erklärt haben, sind die neuen Eltern noch nicht sorgeberechtigt. Bis zur gerichtlichen Entscheidung dauert es meist ein gutes Jahr. In dieser Zeit hat das Jugendamt die Vormundschaft und das kostet zuweilen Nerven. Ute will einfach nur ihr Baby genießen, aber die zuständige Betreuerin drängt die Eltern, zum Wohle von Kind und Familie verschiedene Weichen zu stellen. Sie müssen sich beim Versorgungsamt melden, damit Samuel einen Behindertenausweis bekommt. Sie müssen in den VDK eintreten, damit er nötigenfalls rechtliche Unterstützung erhält. Sie müssen sich nicht nur beim Förderzentrum Zitronenfalter wegen der Frühförderung melden, sondern zusätzlich beim Sozialpädiatrischen Zentrum in Würzburg. So jagt ein Termin den nächsten. In der Anfangszeit bestimmt der Vormund alles, die Frau vom Amt kommt jeden Monat vorbei, schaut nach dem Rechten. Sogar der Familienurlaub muss genehmigt werden.

Im Rückblick sind die Eltern jedoch froh, dass die zuständige Sachbearbeiterin, die schon bei Zita zuständig und mit der Familie vertraut war, so entschlossen vorgeht. Alle Schritte bewirken etwas Gutes. Sie setzt viel bei Behörden durch, was ohne ihre Unterstützung nur schwer gelingen würde. Im Juni 2018 endlich beendet der Gerichtstermin den Schwebezustand. Jetzt ist es ihr eigenes Kind.

„Warum denn dann nicht?“

Inzwischen ist in Harmerz eine Menge Wasser die Sorbach hinabgeflossen. Der dritte Geburtstag von Samuel ist Geschichte, im August steht der Kindergartenbesuch an. Er wird den örtlichen Kindergarten besuchen, worauf er gut vorbereitet ist. Seine Eltern haben ihn nie in Watte gepackt.

Ist ihnen unwohl beim Gedanken, dadurch mehr im Fokus der Dorfgemeinschaft zu stehen? Werden sie jetzt stärker sein müssen? „Sicher nicht bei den Leuten hier.“ Ute hat bislang keine schlechten Erfahrungen gemacht. „Ich selbst nehme Samuel so wahr wie jedes andere Kind. Ich vergesse das Downsyndrom sogar.“ „Es wird einem eher von außen herangetragen“, ist Christofs Erfahrung. Vor allem Kinder seien manchmal direkt. „Der sieht aber komisch aus“, heißt es dann, wobei bei ihm noch sein südeuropäischer Einschlag hinzukommt. Aber so unterschiedlich wirkt er gar nicht: ein bisschen kleiner, etwas zurück in der Entwicklung, ansonsten pfiffig und lebendig. Wen er anlächelt, den hat er kassiert. 

Die Angst vor dem Verglichen- oder Bedauertwerden ist oft der Grund, eine solche Adoption abzulehnen. Vor allem Menschen mit schwächerem Selbstbewusstsein empfinden es als belastend, unter den Augen der anderen einen abweichenden Weg zu gehen. Ute berichtet von Paaren, die in Situationen gerieten, in denen sie sich für die Existenz ihres Kindes mit Downsyndrom rechtfertigen sollten. Was also bringt einen dazu, trotzdem das Kreuzchen an dieser Stelle zu machen? Woher diese Kraft? Ist es das Christ-Sein?

“Ich sage ehrlich: Ganz christliche Beweggründe waren es bei mir nicht. Ich wollte einfach noch ein Kind. Und wenn mich jemand fragt, warum habt ihr auch ein Kind mit Behinderung akzeptiert, sag ich: Weil wir es können. Ich hatte einfach das Gefühl, wir können das, wir schaffen das als Familie. Ich habe nicht gesagt: Als Christ muss ich das tun.“

Christof, der Geschichte studiert hat und für die Kirche arbeitet, sieht es ähnlich. „Wir haben uns das nicht als moralische Pflicht auferlegt. Das Christliche spielt aber indirekt eine Rolle.“ – „Weil man sowieso schon so lebt“, versucht Ute zu präzisieren und räumt ein, es letztlich nicht erklären zu können.

Bei ihrer Entscheidungsfindung sind sie durchaus rational vorgegangen. Zunächst haben sie die Grenze ausgelotet zwischen dem, was sie sich zutrauen würden und was nicht. Jede Form von Behinderung konnten und wollten sie nicht tragen. „Wir haben noch unsere Tochter Zita und das Familienleben muss weiterlaufen. Wir waren offen, es hätte auch eine Körperbehinderung oder Blindheit sein können.“ Gemeinsam mit der Vermittlerin des SkF durchforsteten sie alte Anfragen, die bei der Adoptionsstelle aufgelaufen waren. Anhand dieser Fallbeispiele grenzten sie ein, was ihnen möglich schien. Christof etwa konnte sich nicht vorstellen, ein Kind zu nehmen, das durch elterlichen Drogen- oder Alkoholmissbrauch schwere geistige Schäden erlitten hat. „Das hätte Zorn auf die leiblichen Eltern ausgelöst. Natürlich hätte ich es nicht am Kind ausgelassen, aber es hätte sich nicht gut angefühlt.“ Doch dann fügt er hinzu: „Vielleicht hätte auch das funktioniert, man weiß es ja nicht.“

Er gibt viel mehr, als er fordert

Worüber sich die Eltern oft Gedanken machen, sind Fragen, die die Zukunft betreffen: Wie selbstständig wird Samuel einmal leben können? Wer wird ihn unterstützen, wenn sie es mal nicht mehr können? „Wenn man selbst die Augen zumacht, will man ja nicht, dass sie den anderen aufgehen“, scherzt Christof. Dass sie es relativ gelassen sehen, liegt an der guten Situation in Fulda. Mit dem Netzwerk von antonius im Hintergrund vertrauen sie darauf, dass, wenn die Zeit kommt, eine gute Lösung gefunden werden kann. „Man kann hier beruhigt eine solche Aufgabe angehen.“ 

Wen er anlächelt, den hat er kassiert.

Ute und Christof haben ihre Entscheidung nie bereut und freuen sich, wenn auch andere den Mut aufbringen. Auf der anderen Seite sind sie nicht die Menschen, die viel Aufsehens darum machen. Um diesen Bericht schreiben zu dürfen, mussten wir ein paar mal anklopfen. Christofs Fazit: „Ein Kind mit Downsyndrom anzunehmen, ist wirklich nicht schwierig. Ich würde sagen, es ist leicht. Und es bereichert das Leben.“ Was beide immer wieder betonen, ist die Lebensfreude von Samuel, sein Witz und seine emotionale Kraft. Er ist der Stimmungsmesser der Familie: „Wenn’s Spannungen gibt - er merkt’s als erster. Das tut uns im Familienkontext oft gut.“ Er schmiegt sich an, wenn jemand traurig ist, er ist ein Gemeinschaftswesen, das jeden bedingungslos annimmt. So gibt er weit mehr, als er fordert. Beide Eltern empfinden, dass ihnen in Samuel irgendwie das „unverstellte MenschSein“ entgegentritt. Er zeigt ihnen, was im Leben wirklich zählt: Füreinander da zu sein und dass Karriere und Geld nicht so wichtig sind. Natürlich nehmen sie ihn auch mit zum Gottesdienst. Wenn ihm die Predigt allerdings zu lange wird, ruft er für alle gut hörbar: „Amen!“

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