Wenn das Leben eine Baustelle ist

Von Reinhold Jordan

Im Rhöner Zukunftsdorf SonnErden wohnen mehrere Generationen unter vielen Dächern

Inmitten der Rhöner Idylle entsteht das Zukunftsdorf SonnErden


Aus der Rhönakademie Schwarzerden – gelegen im Gersfelder Ortsteil Maiersbach – wurde im letzten Jahr das Zukunftsdorf SonnErden. Dass der Name, zumindest wettermäßig, nicht immer Programm ist, haben viele der mittlerweile dreißig Bewohner, die aus allen Ecken Deutschlands kommen, schon gemerkt. Deshalb wird der 650 Meter hoch gelegene Ort schon mal schmunzelnd „Nebelerden“ genannt. Sich an das Rhöner Klima zu gewöhnen ist für manche eine kleine Herausforderung. Doch einige der Dorfbewohner mögen inzwischen das raue Mittelgebirgswetter, umso mehr, weil der Platz so idyllisch und naturnah liegt und das Areal so großzügig ist. Lichten sich dann noch die Nebel, genießen sie wundervolle Aussichten auf die Ebersburg und die Wälder und Rhöner Berge ringsum.

Vor drei Jahren kamen zwei der Mitinitiatoren, Hannah von der Gathen und ihr Mann Jonas, mit ihren drei Kindern in die Rhön – quasi als Scouts, weil ihre Kinder auf die Schule in Loheland gehen sollten. In einem gemeinschaftlichen Mehrgenerationenprojekt leben wollten sie damals schon, dachten aber eher an den Erwerb eines alten Bauernhofes. Als sie dann erfuhren, dass die Rhönakademie Schwarzerden zu verkaufen ist, rührten sie in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis die Werbetrommel und setzten viele Hebel in Bewegung. Mit Erfolg!

„Wir sind noch in der Gründungsphase“

Heute, knapp anderthalb Jahre später, etabliert sich hier nun unter dem Dach Zukunftsdorf SonnErden eine Wohngenossenschaft mit derzeit zwanzig Erwachsenen und zehn Kindern. Und dieses Dach beherbergt sehr viel: viele Ideen, Initiativen und Projekte, viel Arbeit, viele Baustellen, ein großes Grundstück mit zwölf Gebäuden inklusive des Haupthauses, der einstigen Akademie. Dazu kommen noch circa zehn Helfer aus aller Welt und ebenso viele Studierende, die innovative Formen des Studierens erproben.
„Wir sind noch in der Gründungsphase“, sagt Jonas von der Gathen, „und die wird bestimmt länger andauern.“ Das glaubt man gerne. Überall wird saniert, gewerkelt, renoviert und geplant.

In der Großküche steht Benjamin Brockhaus, Nachhaltigkeitsökonom, Unternehmensberater und Mitgründer, während sich in der Nähe dröhnend ein Vorschlaghammer irgendwohin durcharbeitet. „Schnelle Küche heute“, sagt er fast entschuldigend. Nicht immer findet sich jemand, der mit ausreichend Zeit für die dreißig Personen ein Essen vorbereitet. Saisonale und regionale Bioerzeugnisse aus den nahe gelegenen Höfen zu verwenden ist hier gelebte Überzeugung. „Wir wollen ein lebendiger Teil der Region und der Nachbarschaft sein“, erklärt Brockhaus. Heute gibt es Bio-Gnocchi und Tortellini mit Tomatensoße, dazu Würstchen, echte und vegane. Mittagessen ist gegen 13 Uhr. Im Essenssaal, in dem alle, die wollen, zusammenkommen, ist dann auch Gelegenheit für die ein oder andere Ankündigung. Denn es gibt natürlich auch viele interne Termine – vom abendlichen Volleyballspiel in der eigenen Turnhalle bis zum Orga-Treffen wegen des baldigen Flohmarkts.

„Eigentlich sind alle noch mit Nestbau beschäftigt“

Und es gibt viele Räumlichkeiten. Büros, in denen Kinder am Tisch spielen, ein Café, ein gerade entstehender Bioladen, eine Aula, wo Yoga und Chorsingen, aber auch kleine Lesungen stattfinden, Seminarräume, die manchmal vermietet, manchmal selbst genutzt werden, und all die Häuser, die zum Teil bewohnt und zum Teil noch ausgebaut werden – oder beides. Vier junge Familien mit ihren Kindern leben in eigenen Wohnungen im Haupthaus auf den verschiedenen Etagen. Die internationalen Bauhelfer haben als eigenes Domizil das sogenannte Workiehaus und auch die jungen Studierenden organisieren ihre Leben in einer eigenen Wohngemeinschaft. Die ältere Generation, zu denen die Eltern von Jonas von der Gathen, Briél und Jean-Marie, und der Kunsthandwerker Guido Hörnschemeyer zählen, leben in den etwas ruhigeren Häusern in eigenen Wohnungen.


Die „Sonnerdener“ setzen auf Eigeninitative und Gemeinsinn − auch im Garten

„Eigentlich sind alle noch mit Nestbau beschäftigt“, sagt Briél von der Gathen, die hierhergezogen ist, obwohl sie wärmere Breitengrade bevorzugt. Doch nahe bei ihren Enkeln zu sein hat für sie im Moment oberste Priorität. „Alle sind noch dabei ihren Platz zu finden!“ Auch sie selbst. Kürzlich ist sie innerhalb des Areals in eine Dachwohnung umgezogen, die vorher von Studierenden bewohnt wurde – Hörnschemeyer baut gerade die Katzenklappe in ein Fenster ein. Im Erdgeschoß: Baustelle. Was sonst?

Zukunftsdorf? Was ist das?

Wenn die Menschen hier gefragt werden – und das werden sie oft –, was denn ein Zukunftsdorf eigentlich sei, dann gibt es darauf verschiedene Antworten und auch die Offenheit, noch nicht auf alles eine Antwort geben zu können. Einerseits gibt es viele Ideen und Gedanken für diesen Ort, andererseits ist das Leben eben eigenwillig und entfaltet sich auf ganz eigene Weise – und das ist auch so gewollt. „Wir wollen uns keine einheitlichen Ideen überstülpen“, so Jonas von der Gathen. „Ich sehe den Ort eher als eine Art Forschungsfeld, in dem drängende Zukunftsfragen bewegt und vielleicht kleine Lösungsansätze ausprobiert werden können zu Themen wie Ökologie, Pädagogik, solidarisches Wirtschaften oder eben ein wertschätzender Umgang mit der Natur.“

Dazu gehört auch, dass die Erde und Natur nicht als Ware oder Spekulationsobjekt behandelt wird. Entsprechend ist die SonnErden eG, der Rechtsträger des Zukunftsdorfes, dabei, den Boden, auf dem das Dorf entsteht, durch eine Stiftung unverkäuflich zu machen. So würden die hier zukünftig lebenden Menschen zu Treuhändern des Geländes und es könnte dann nicht mehr an einen meistbietenden Investor verkauft werden. Alle, die hier wohnen, zahlen monatlich übrigens eine ganz normale Quadratmetermiete an die Genossenschaft, um den Kaufkredit abzulösen.

Lebendige Dorfgemeinschaft: gemeinsam feiern, gemeinsam den Ort planen und gestalten

„Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf!“

„Viele von uns teilen ähnliche Werte“, betont Briél von der Gathen. „Wir wollen zusammen und voneinander lernen.“ Dass viele der Dorfbewohner sich zum Teil schon länger kennen, macht das Zusammenleben einfacher. Die meisten der Mitzwanziger bis Enddreißiger sind beruflich selbstständig. Manche haben eigene Unternehmen mitgebracht, sind teilweise weit gereist, mit bunten Biografien, kommen aus Großstädten und sind fast alle Eltern, manche werdende. Dass ihre Sprößlinge in einem Verbund aufwachsen, ist allen ein Herzensanliegen. Rachel Steuernagel, werdende Mutter im achten Monat, zitiert das afrikanische Sprichwort:

„Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf!“ Dies ist nicht nur pädagogische Überzeugung, sondern wird hier zum Lebensalltag. „Die Kinder können sich inmitten der Natur frei und sicher fühlen“, schwärmt sie. „Sie haben gleichaltrige Spielgefährten und viele erwachsene Bezugspersonen, von denen sie lernen können.“

„Auch setzen wir vor allem auf Selbstverantwortung und Eigeninitiative“, erklärt Jonas von der Gathen. Sich in das Gemeinsame einzubringen soll aus einem freien Impuls entstehen. Dann ist auch die Bereitschaft größer, Verantwortung zu übernehmen, so das Credo. Ob die Anschaffung von Hasen, das Organisieren eines Weihnachtsfestes, das Anlegen eines Gemüsegartens: All dies geschieht, weil Einzelne es möchten, nicht, weil es für alle beschlossen wird.

Wege entstehen, indem man sie geht

Ob die hehren Ziele des selbsterklärten Zukunftsdorfes erreicht werden, wird die Zeit zeigen, das weiß Jonas von der Gathen. „Wir sind keine blauäugigen Idealisten“, so der Co-Inhaber einer werteorientierten Personalvermittlung. „Viele von uns haben im eigenen Leben schon ihre Ernüchterungserfahrungen gemacht. Aber wir alle sind motiviert, neue Wege zu gehen!“ „Zukunftsdorf“ heißt eben auch, bereit zu sein, neue Wege zu gehen, ohne genau zu wissen, wohin diese führen. Es heißt ja auch: Ein Weg entsteht, indem man ihn geht.


Spielend lernen: Ein cooler Ort für Kids

„In den Sommerferien“, sagt Briél von der Gathen, „waren die meisten von uns unterwegs, und als sie zurückkamen, fühlte es sich irgendwie unverbunden an zwischen uns.“ Das empfand offensichtlich nicht nur sie so. Schließlich lud man einen externen Supervisor ein, der den Bewohnern von SonnErden half, sich neu auf ihrem Weg zu finden. Eine lebendige Dorfgemeinschaft ist eben kein Selbstläufer – man muss sich darum kümmern.

Was bei so viel Aktivität und Ambition manchmal unter die Räder zu geraten droht, strahlt der „Dorfälteste“ Jean-Marie Weber aus, während er mit Schubkarre und Gerätschaften über das Areal schlendert: die nötige Ruhe. Davon fehle es vielleicht noch ein bisschen hier, erklärt Briél von der Gathen, denn die ältere Generation sei noch etwas unterrepräsentiert. Aber auch hierfür gilt: Alles zu seiner Zeit! Und wer weiß: Vielleicht ist das Leben ja in einem viel umfassenderen Sinne eine Baustelle, als wir alle ahnen.

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