Wenn die äußeren Räume eng sind, müssen die inneren weit sein

Die Uhren auf und hinter dem Fuldaer Busbahnhof zeigen dieselbe Zeit. Und doch verstreicht sie diesseits und jenseits der hohen Mauer auf unterschiedliche Weise. 

Dabei führen die 25 Ordensfrauen des Benediktinerklosters St. Maria ein ebenso arbeitsreiches Leben wie alle anderen auch. Der Unterschied ist: Zeit hat hier viel mit innerem Rhythmus zu tun. Das spürt man auch im Gespräch mit der Äbtissin Benedikta Krantz.

Schwester Benedikta, Sie stammen aus einer Handwerkerfamilie, die eine Metzgerei unterhielt. Was bedeutet das für Sie im Rückblick?

Meine Herkunft ist mir im Laufe der Zeit immer wichtiger geworden. Mein Vater war ein bodenständiger, solider Handwerker, der seine Kinder gerne im Betrieb gesehen hätte. Mir war lange klar, dass meine Interessen in eine andere Richtige gehen würden. Ich verdanke meinen Eltern aber ganz viel. Ich bin froh, in sehr klaren, durchschaubaren Strukturen groß geworden zu sein. Da wurde gesagt, was Sache ist, da hat es auch mal Konflikte gegeben. Mein Vater war in jungen Jahren ein sehr impulsiver Mensch, der die Sachen auf den Tisch gelegt hat. Aber dann war es wieder in Ordnung, und das war gut, denn es gab keine schwelenden, unausgesprochenen Vorwürfe. Das ist für mich auch im Kloster wichtig, dass man vergessen kann und nichts nachträgt.

Was ich auch erlebt habe, war, dass ich unglaublich verlässliche Eltern hatte. Da wurde in mir ein Fundament von Vertrauen und Liebe gelegt. Diese Erfahrung – „Du bist gewollt, so wie du bist“– sehe ich in einem deutlichen Zusammenhang mit meiner Lebensentscheidung und mit meinem Gottesbild. Es ist wichtig im geistlichen Leben, nicht dauernd an Gott und den Menschen zweifeln zu müssen. Und ich habe durch mein Elternhaus auch im Praktischen profitiert. Bevor ich Priorin wurde, hatte ich zwei Jahre lang die wirtschaftliche Leitung. Dabei spürte ich, dass mehr an geschäftlichem und kaufmännischem Denken hängengeblieben ist, als ich dachte. 

Im Jahr 2000 wurden Sie zur Äbtissin geweiht, obwohl Sie erst relativ kurz im Kloster waren. Wie kam es, dass Sie so schnell in ein Leitungsamt gestoßen wurden?

Das war eine spannende Sache, ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass die Schwestern mich wählen würden. Einige Zeit später sagte einmal eine Mitschwester: „Was hätten wir machen sollen, wir haben ja niemand anderen gehabt.“ Das hat mich zunächst getroffen, aber ich gehe schon davon aus, dass sie hingeschaut haben, wen sie wählen wollten. Ich war nicht mehr sehr jung. Ich bin 1989 eingetreten, war 36 Jahre alt. Gut sieben Jahre später wurde ich gewählt, konnte aber aus kirchenrechtlichen Gründen nicht Äbtissin werden, weil ich noch nicht lange genug im Kloster war. So wurde ich von Rom drei Jahre als Priorin eingesetzt. Diese Zeit bedeutete für mich eine intensive Auseinandersetzung mit dem Leitungsamt. So konnte ich drei Jahre später nach erneuter Wahl bewusster „Ja“ dazu sagen.

Was haben Sie vor ihrem Einritt gemacht?

Ich komme aus dem sozialen und religionspädagogischen Bereich, unterrichtete vor dem Eintritt in Würzburg Sozialpädagogik. So konnte ich mir ein wenig Handwerkszeug im Umgang mit Menschen, auch mit Gruppen, aneignen. Ich bin genau in dem Moment abgesprungen, als man mir anbot, eine Aufgabe im Leitungsbereich zu übernehmen. Ich wollte keine Karriere machen. Eigentlich schon mit 20 habe ich gewusst, dass ich gerne einen geistlichen Weg gehen würde. Wie er aussehen würde, war lange unklar. Nach einiger Suche bin ich in Fulda eingetreten und habe mein Noviziat gemacht. Allmählich lebte ich mich ein, was nicht so einfach ist, wenn man schon geprägt ist. Als ich dann ins Leitungsamt gewählt wurde, dachte ich, mich trifft der Schlag. Aber ich habe dies angenommen und als Dienst für die Gemeinschaft begriffen. Wir haben in den Klöstern zwar eine hierarchische Ordnung, aber Obere können keineswegs ungefragt ihren Dienst tun. Das ist oft herausfordernd. Man sollte sich nicht wünschen, ziemlich „oben“ an der Spitze zu stehen – ich begreife das eher als eine „Karriere nach unten“.

Worin bestehen die Schwierigkeiten?

Wir sind eine Frauengemeinschaft, die auf relativ engem Raum zusammenlebt. Niemand hat sich ausgesucht, mit genau diesen Frauen zusammenleben zu wollen. Eigentlich ist es „verrückt“. Das ist ja keine bewusste Entscheidung für diese oder jene. Man findet eine Gemeinschaft vor und muss schauen, wie sich das Leben gestaltet. Da entsteht eine eigene Dynamik, mit der man umgehen können muss. Ich glaube aber fest, dass Gott jede von uns zu einer bestimmten Zeit an diesen bestimmten Ort berufen hat. Darauf versuchen wir mit unserem Leben zu antworten, indem wir unsere Gemeinschaft möglichst gut gestalten, mit all den Grenzen, die sie zweifellos hat. Wenn die äußeren Räume eng sind, müssen die inneren sehr weit sein. Denn wenn „die inneren Räume“ weit sind, kann man jedem so begegnen, dass es einen „Mindestkonsens“ gibt. Die einen sind näher, die anderen weiter weg, aber wir sagen nicht leicht: „Diese oder jene gehört nicht hierher“. Das ist ein Anspruch, unter dem wir stehen.

Wie sehen Sie die Rolle der Abtei für Fulda?

Ich sehe die Abtei als einen Ort, an dem sich Menschen dem Gottesdienst ungeteilt widmen können. Das ist unsere erste Aufgabe als Benediktinerinnen. Wir kommen fünfmal täglich zum Gebet zusammen, egal was geschieht, egal wie viele da sind. Das tun wir nicht für uns oder zu unserem Seelenheil. Es geht vielmehr darum, einen Dienst zu erfüllen, der heißt: für das Heil der Welt zu beten. Ich glaube, es ist für eine Stadt wie Fulda nicht egal, ob es solche Orte wie Klöster gibt. Ich glaube an ihre Wirkung, auch wenn man sie nicht messen kann. 

Wir hatten einmal einen Naturwissenschaftler zu Gast, der nicht im strengen Sinn „gläubig“ war. Er sagte: „Wenn Sie in ihrer Kirche singen, verändern die Schallwellen die Atmosphäre. Sie wirken in die Stadt hinein, auch wenn die Menschen es nicht bemerken. Ihre Gebete, die sie singen und sprechen, kommen so in die Welt. Sie würden der Welt fehlen, wenn Sie Ihren Dienst nicht täten.“ Das hat mich beeindruckt.

Kann ein solcher Weg heute noch junge Frauen faszinieren?

Das glaube ich schon. Auch wenn die Kirche im Umbruch ist: Die Sinnsuche hat nicht aufgehört. Menschen schauen sehr genau, wo Leben authentisch, gelebt wird. Es ist keinesfalls so, dass junge Menschen weniger nach Gott fragen. Vielleicht nicht so sehr nach dem Gott, den wir so oft zu kennen meinen. Aber jeder Mensch hat in seinem Herzen die Sehnsucht nach einer Überhöhung seiner selbst, nach etwas, das größer ist als er. Ob er das sagen kann oder nicht. Etwas anderes ist es eigentlich nicht mit Gott. Wir sprechen oft eine zu festgelegte und schwer verständliche Sprache, wenn wir Gott meinen.

Aber die Art und Weise, wie heutige Jugendliche leben, scheint doch immer weniger zu dem Leben zu passen, das einen im Kloster erwartet.

Ja, denn der Schritt heraus aus der Gesellschaft in all ihrer Pluralität hinein in eine klösterliche Gemeinschaft – den kann man sich nicht groß genug vorstellen. Er ist riesig, denn das Leben hier geht nach ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten vor sich. Andererseits findet man hier (fast) alles wieder, was sich im gesellschaftlichen Kontext ereignet. Ich glaube, dass die Entscheidung für ein klösterliches Leben auch deshalb so schwierig ist, weil die jungen Menschen sich heute insgesamt schwerer tun, sich für eine Sache ganz konsequent zu entscheiden. Ich würde das nicht losgelöst sehen. Wenn jemand heute einen Beruf lernt, ist er nicht sicher, wie lange er ihn ausübt. Früher war das eine Lebensentscheidung. Oder die Partnersuche. Ich sehe in meinemBekanntenkreisen, wie schnell Beziehungen brüchig werden können. Es ist heute schwieriger und dauert länger, bis man sich für etwas entscheidet, was man nicht mehr ohne weiteres rückgängig machen kann. Und das erleben wir auch hier.

Wie sieht es mit dem Nachwuchs aus?

Novizinnen haben wir im Moment nicht. Es gibt immer ein paar, die „vor der Klostertür spazieren gehen“ und auch oft zu Besuch sind. Aber es ist ein langer und sorgfältiger Prozess, bis wir sagen: „Wir versuchen es zusammen.“ Wir haben auch die Möglichkeit eines Probepostulats, da kann jemand bei uns in der Klausur mitleben und schauen: „Ist das überhaupt etwas für mich?“ Ansonsten legen wir Wert darauf, dass interessierte junge Frauen eine solide Berufsausbildung mitbringen und am besten auch etwas Berufserfahrung. Sonst empfindet man auftauchende Schwierigkeiten leicht als klosterspezifische Probleme. Was mir persönlich sehr wichtig ist: dass eine junge Frau auch Beziehungserfahrungen hat, wobei sie nicht alles, was möglich ist, erlebt haben muss. Es ist schwierig, wenn später das Gefühl kommt, etwas nachholen zu müssen. Beziehungen und damit verbundene Erfahrungen bringen den Menschen in seiner Reife weiter. Sie machen das Leben „rund“. Im Allgemeinen gebe ich Interessentinnen viel Zeit. Schnellschüsse bringen nichts. Das sehr anspruchsvolle klösterliche Leben muss im Vorfeld gut bedacht sein. 

Es scheint, dass die Kirche die Menschen immer weniger erreicht ...

In Gesprächen erlebe ich zunehmend, dass die einfachsten kirchlichen Begriffe fremd sind. Man darf fast nichts voraussetzen. Das ist kein Vorwurf, es fällt mir nur auf. Offensichtlich schafft es die Kirche momentan nicht so gut, die Sprache der Menschen zu sprechen. Sie arbeitet mit einer Binnensprache, die oft schwer verständlich ist. Papst Benedikt XVI. ist ein fantastischer Theologe und Philosoph. Wenn sich jemand mit Sprache und Theologie beschäftigt, kann er bei ihm viel entdecken. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es darauf nicht in erster Linie ankommt. Natürlich ist es für die Gesamtkirche wichtig, dass die Theologie sauber und wahr bleibt. Aber da kommt der neue Papst mit ganz einfachen Worten und Gesten, und die Herzen der Menschen öffnen sich. Warum? Weil er das menschliche Gesicht dieser Kirche zeigt. Ich gehe davon aus, dass auch er große theologische Kenntnisse hat, aber er ist zugleich ein Stück Antwort auf die Sehnsucht der Menschen. Man darf ihn natürlich nicht mit Erwartungen überfrachten. Aber er hat durch die Art, wie er auf Menschen zugeht, Herzen und Türen geöffnet. Das finde ich faszinierend. Als ich Papst Franziskus zum ersten Mal sah und hörte, ist mir innerlich leichter geworden. Ich konnte atmen. Ich wünsche diesem Mann ein sehr langes Leben. Er braucht keine Dogmen zu verfassen, auch kein Konzil einzuberufen. Wenn er nur einfach dieses menschliche Gesicht behält und damit Kirche und Welt zeigt, was Gott uns mit Jesus Christus zeigen wollte. 

Ist es wieder ein Schritt zum Ursprung der Kirche? 

Ja, könnte man so sehen. Franziskus schreibt: „Die Kirche hat sich manchmal in kleine Dinge einschließen lassen, in kleine Vorschriften. Die wichtigste Sache ist aber die erste Botschaft: Jesus Christus hat dich gerettet.“ Das ist so einfach, klar und wohltuend. „Die Diener der Kirche müssen vor allem Diener der Barmherzigkeit sein.“ Da können alle aufatmen, die von der Kirche enttäuscht wurden, die Wiederverheirateten und Geschiedenen. Aber auch viele andere, die aus der Kirche keine Kraft mehr ziehen können, weil ihnen die Zugänge fehlen, können wieder den Anfang entdecken: Das Evangelium, die Rede von Jesus Christus, in dem Gott sich so gezeigt hat, wie er sein wollte, dem Menschen ganz nah.

Als Pädagogin sind Sie mit dem Gedanken der Inklusion vertraut. Darf dieser an sich gute Gedanke dazu führen, Wohnheime und Werkstätten zu schließen? Was kann uns die Erfahrung des Klosterlebens lehren?

Eine Ghettoisierung ist immer schlecht. Es gibt Klöster, die sind so abgeschlossen, dass niemand partizipieren kann. Man muss sich aber auch davor hüten, alles aufzugeben, was zusammenführt und bündelt. Das ist eine Frage der Konzentration auf das Wesentliche. Wir müssen z. B. aufpassen, dass wir nicht zu viele Aufgaben übernehmen, die uns so zerstreuen, dass wir dem Grundauftrag nicht mehr nachkommen können. Die Situation in einem Behindertenwohnheim kann man natürlich nicht lückenlos mit dem Klosterleben vergleichen. Aber ich würde auf der einen Seite sagen: Ich bin froh, wenn Menschen mit einem Handicap nicht den Stempel haben: „Du bist behindert, du gehörst ins Antoniusheim!“, sondern wenn sie spüren: „Du gehörst zu uns.“ Auf der anderen Seite darf man nicht unterschätzen, dass solche Einrichtungen auch Heimat sind. Es wäre fatal, das auseinanderzureißen. Gerade behinderten Menschen darf das emotionale Fundament nicht entzogen werden. Natürlich wandelt sich vieles. Als die Vinzentinerinnen über lange Zeit im A-Heim anwesend waren, war allein durch ihr Dasein gewährleistet, dass die Menschen die Sicherheit hatten: „Da ist jemand für mich da, da gehöre ich hin.“ Das sagt nichts gegen die Kompetenz aller anderen Mitarbeiter. Aber dadurch, dass Bewohner und Schwestern zusammenlebten, hatten die behinderten Menschen einen klaren Lebensmittelpunkt. Inklusion und Integration sind wichtig, dürfen aber nicht auf Kosten von „Heimat“ gehen. Jeder Mensch hat das Bedürfnis einer räumlichen Zugehörigkeit. Wo bin ich zu Hause? Dort, wo ich verstanden werde und willkommen bin.

Das Schwerpunktthema der nächsten Ausgabe des SeitenWechsels lautet „Arbeit und Lebensbalance.“ Hat eine Äbtissin auch mal Stress?

Den Ausdruck Stress finde ich nicht so gut, wohl aber Lebensbalance. Das ist etwas Wichtiges, auch in meinem Leben. Ich muss die richtige Balance finden zwischen dem, was mich hierher geführt hat, also meinem Ideal, und dem, was es für mich konkret zu tun gibt. Die Gefahr ist groß, dass man sich in die Arbeit stürzt, in ihr aufgeht. Und: Wir haben in der Tat genug Arbeit.

Wovon lebt Ihre Abtei? Wie finanziert sie sich?

Wir leben zum einen vom Klosterladen. Da sind wir bei vielen Sachen selbst Zulieferer mit einer kleinen Holzwerkstatt, einer Schneiderei, der Küche, der Herstellung verschiedener Teesorten. Was im Kloster hergestellt wird, genießt das Vertrauen vieler Menschen. Das zweite Standbein ist das Düngemittel Humofix. Wir haben das Patent für dieses Kompostierpulver auf biologischer Basis. Lange bevor die Ökowelle kam, haben die Schwestern mit seiner Erprobung begonnen. Schwester Christa gibt Bücher und Schriften heraus, dazu unsere Gartenzeitschrift „Winke“. Manche Leute denken, wir würden Kirchsteuer kriegen. So ist es nicht. Wir machen es, wie es der heilige Benedikt fordert: „Sie sind dann wahrhaft Mönche, wenn sie von ihrer Hände Arbeit leben.“ Wir müssen alles lückenlos selbst erwirtschaften. Dazu kommt die Grundversorgung: die Wäsche, die Küche, das Putzen. All dies muss in einem guten Verhältnis zu der Zeit stehen, die die Nonne für ihre Suche nach Gott hat. Natürlich kann man Gott auch in der Arbeit finden, aber es ist schon manchmal eine Spannung. Wir mühen uns um das alte Mönchsideal, als „monachus“ die Einsamkeit zu lieben, um Gott sprechen zu lassen. Dem muss man Raum geben. Dabei spielt auch die geistliche Lesung eine große Rolle.

Also das Bibelstudium?

Ja, aber auch die alte christliche Literatur; und Theologisches, um zu vertiefen, was wir leben. Ich habe nach Möglichkeit immer drei Bücher auf meinem Nachttisch: etwas Geistliches, einen Gedichtband und einen Krimi. Man kann nicht nur Geistliches aufnehmen. Es gibt auch andere Möglichkeiten, die innerlich reich machen. Das ist für mich Lyrik in einer ganz großen Bandbreite. Und ich muss immer mal einen Krimi lesen, das ist so eine Leidenschaft, wie auch Fußball.

Fußball? Fiebert der Konvent bei Weltmeisterschaften mit?

Es ist sicher nicht die Vorliebe aller, aber doch einiger. Ich kann natürlich nicht jedes Spiel anschauen. Wenn ich erst um 11 Uhr ins Bett gehe und dann bis fünf schlafe, ist das zu wenig. Aber wenn Welt- oder Europameisterschaften sind, versuche ich meine Ferienzeit so zu legen, dass ich einen Teil der spannendsten Spiele sehen kann. Das habe ich auch von meinem Vater geerbt.

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