„Wenn die Leute mehr drauf achten, wie sie sich nach dem Essen fühlen, müssen sie gar nicht so viele Bücher lesen“

Das Gespräch führten Hanno Henkel und Arnulf Müller

Ein Supermarkt ist der Spiegel einer Region –ein bisschen zumindest. Was in den Regalen steht, erzählt so einiges von den dort lebenden Menschen: von ihren Vorlieben, ihrem Ernährungsverhalten, von ihrer vorhandenen oder fehlenden Genussfähigkeit. Es erzählt davon, ob sie bereit sind, für gesunde, ökologisch oder fair produzierte Waren den angemessenen Preis zu bezahlen – oder eher nicht. Blickt man in die Regale von tegut, erzählt der Spiegel Positives über uns. Unter den 20.000 Produkten finden sich stolze 3.800 Bioprodukte, jede Menge Regionales und reichlich Pflanzliches. Im Gespräch mit Thomas Gutberlet, der die Geschicke des Unternehmens in der dritten Generation mitbestimmt, umkreisen wir das Selbstverständnis des Fuldaer Handelsunternehmens. Wir sprechen über den geistigen Wert von Lebensmitteln, übers Wegwerfen und über das Verhältnis von tegut zur Kunstgeschichte.

Nächstes Jahr wird es 40 Jahre her sein, dass das erste Bioprodukt in einem tegut-Regal lag. Wissen Sie, was es war?
Ich weiß es nicht [lacht]. Ich habe im Familienkreis nur mitbekommen, dass es Projekte mit Bauern im Zusammen-
hang mit Milch gab. Und ich weiß noch, dass wir in Sassen versuchten, Brot zu bekommen. Das waren Einzelinitiativen und es lief mal besser und mal schlechter. Ein großer Schwung kam durch die Zusammenarbeit mit Alnatura- Gründer Götz Rehn, der in unserem Büro sein Konzept entwickelt hat.

Gab es damals schon viele Biobauern?
Es gab schon einige, aber die Geschichte, die mein Vater erzählt hat, war, dass die Milch oft schon verkauft war, bevor wir damit handeln konnten. Wir hatten dann die ersten Regale „Naturkind“, noch bevor es das bei Tengelmann gab. Das waren die ersten Bio-Versuchsregale oben in der Habelbergstraße. Das war der größte tegut-Markt in Fulda damals.

Man sagt ja immer, dass der Kunde über das Sortiment entscheidet. tegut hat aber die Bio-Entwicklung aktiv mitgestaltet. Kann man sagen, dass das Unternehmen seine Kunden ein wenig erzogen hat?
Vielleicht nicht unbedingt erzogen. Wir haben ihnen einfach Möglichkeiten gegeben. Das ist das Spannende am Händlerdasein. Eigentlich ist es noch wie im Mittelalter – nur größer: Man steht als Händler mitten auf dem Marktplatz und muss schauen, was die Kunden wollen. Im Mittelalter hat nicht einfach einer die Idee gehabt: „Wir bräuchten mal Gewürze aus dem Orient.“ Man hat einfach Gewürze mitgebracht und siehe da, es fanden alle toll! Es ist immer ein Schauen, Ausprobieren und Anbieten. Und wenn man von etwas überzeugt ist, fragt man sich, ob man nicht noch jemanden für bestimmte Produkte gewinnen kann, wenn man etwas Aufklärungsarbeit betreibt. Da hat unser Prospekt „Marktplatz“ eine unheimlich wichtige Rolle gespielt. Genauso wichtig war es, die Mitarbeiter
mitzunehmen. Natürlich braucht man auch Kunden, die mitgehen. Aber die Kunden sind gar nicht so einseitig und verbohrt, wie sie manchmal hingestellt werden. Sie wissen relativ genau, was es für Möglichkeiten gibt. Man muss ihnen die Dinge nur anbieten, sie bei ihrer Neugier packen und angemessen informieren. Das schreiben wir uns schon zu. Sicherlich sind wir klein und was wir machen, ist vom Handelsvolumen her für den Welthandel nicht relevant. Aber wenn einer im Handel zeigt, dass es geht, können alle anderen nicht sagen: „Es geht nicht!“ Dann fragt der Kunfolgede woanders: „Warum könnt ihr das nicht?“ So kommt eine Spirale in Gang, und das hat uns dann auch wieder selbst weitergetrieben.

Sie nehmen auch Einfluss auf die Erzeugung, etwa wenn Sie einen Verbund mit mehreren Bauern gründen. Sie geben ihnen eine Abnahmegarantie für Fleisch, fordern aber Qualitätsgarantien. Wie läuft das?
Auch hier hängt man mittendrin und fragt sich: Wie viele Kunden gibt es, die bereit sind, für eine bessere Qualität, bessere Haltung und Antibiotikafreiheit mehr fürs Fleisch zu zahlen. Dann suche ich Landwirte, die bereit sind, das so zu produzieren. Ob es eine Idee vom Kunden, vom Erzeuger oder von uns selbst ist, ist egal. Wir zahlen den Erzeugern mehr fürs Schwein, haben dann aber die Verantwortung, möglichst viel davon unter diesem Label zu verkaufen. Wir können ja das, was der Bauer mehr bekommt, nicht nur auf das Filet aufschlagen. Also sucht man den passenden Wurstproduzenten. Zuletzt kreiert man dann die entsprechende Logistikkette.

Sie sind so eine Art Tellerjongleur?
Ja, so ein bisschen! Aber das Schöne ist, es jonglieren viele Leute mit und die geben die Teller wieder an andere weiter. Das macht unser Unternehmen aus.

Sie haben mal in einem Interview gesagt, dass Nachhaltigkeit und Regionalität nur lebbar sind, wenn der Radius von 150 Kilometern um Fulda herum nicht überschritten wird. Jetzt haben sie in München Fuß gefasst. Was hat sich verändert?
Früher waren die Leute mit fahrenden Wägen unterwegs und haben geschaut: Wo leben die Leute? So ein bisschen müssen wir das auch machen. Viele Regionen in diesem Radius sind keine Zukunftsregionen. In Nordhessen und Nordthüringen wird es massive Schrumpfungen geben. Als Händler muss ich dahingehen, wo die Leute in Zukunft wohnen wollen. Mir wäre es lieber, sie würden im Vogelsberg bleiben, aber ich muss schauen, wie ich mit dem Schwund umgehe. An manchen Stellen ist vielleicht ein tegut… teo passender. Wenn es die Leute in Ballungszentren zieht, muss ich dem Rechnung tragen. Das ist in Sachen Regionalität dann eine Herausforderung. In München haben wir nur einen Markt. Trotzdem haben wir ein regionales Händlernetz aufgebaut. Ich kann dort zwar Fuldaer Wurst anbieten, aber sie wollen eben auch ihre gewohnten Produkte. Dafür muss ich vor Ort Partner finden. Ich muss mich also fragen: Was bedeutet Regionalität in Nürnberg und was in München? Umgekehrt: Nicht alles, was regional ist, ist auch nachhaltig. Wenn ich meine Grundversorgung aus der Rhön decken wollte, wäre das nicht sehr nachhaltig. Sich hier Gewächshäuser mit Tomaten hinzustellen und die mit Biogas zu betreiben, wäre grenzwertig. Hessisch-Sibirien ist eben nicht so die Gemüseregion, da ist es südlich von Frankfurt oder in Franken besser. Je einseitiger wir Nachhaltigkeit bestimmen wollen, desto falscher liegen wir. Auch hinsichtlich der sozialen Bilanz, ist es nicht immer so eindeutig, wie man es gern hätte.

Da Sie das Soziale ansprechen: Sie sagten mal: „Menschen wollen sich weiterentwickeln, und da sie die meiste Zeit an der Arbeit verbringen, ist dort auch der richtige Ort dafür.“ antonius hat es mit Menschen zu tun, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben, solche Entwicklungschancen zu bekommen. Deswegen versucht antonius, einen Talentblick zu etablieren. Also nicht immer darauf zu schauen, was einer nicht kann, sondern darauf, was einer kann. Wie ist das bei tegut?
Da besteht kein großer Unterschied. Es nützt ja nichts, jemandem etwas beizubringen, wofür er nicht geeignet ist. Man muss sehen: Wo gibt es vielleicht Leute, die an einer Stelle arbeiten, wo sie nicht die Leistung bringen können, die sie selbst erbringen wollen. Die größte Herausforderung in einem so komplexen Unternehmen ist, dass sich die Menschen ausreichend Zeit für Führung nehmen. Wer das tut, schaut immer auf Potentiale. Das kann ein Unternehmen unterstützen, etwa durch verpflichtende Entwicklungsgespräche. Da kommt es nicht auf das Ausfüllen von Formularen an, sondern Formulare gibt es nur, damit Wünsche geäußert und Wege zur Entwicklung gesucht werden können. Eine Defizitbetrachtung ist immer schlecht.

Ein großer Teil der Menschheit hat noch immer Schwierigkeiten, satt zu werden. Das ist in unseren Breitengraden kein Thema. Wir sorgen uns um die „Ernährung“. Was ist der Unterschied?
Wir haben in Deutschland eine unglaubliche Entwicklung gemacht. Wenn ich auf die Anfänge meines Großvaters schaue, als nach dem Krieg von Lebensmittelmarken auf die Währung umgestellt wurde, da war es existentiell, ob man Butter oder Mehl bekommen hatte oder nicht. Mit der Wohlstands- und Überflussgesellschaft ist das weltweit gekippt. Heute sterben mehr Menschen an falscher Ernährung als an Hunger. Die Probleme haben sich komplett verschoben. Aber wenn wir hier ordentlich mit Lebensmitteln umgehen und schauen, was uns guttut, dann hat das auch Auswirkungen auf die Ernährungslage der Welt. Wir sollten uns das leisten, uns gesünder und pflanzlicher zu ernähren, weil wir damit auch eine gute Entwicklung in vielen Regionen der Welt befördern. Wenn alle so leben wollten wie wir heute, würde es nicht funktionieren und es wäre nicht einmal gesund. Die westliche Kultur wird von vielen nachgeahmt, und wenn wir diese Vorreiterrolle behalten wollen, sind wir herausgefordert, auch bei der Ernährung Vorbild zu sein.

Welche Schritte sind da zu gehen? Im Moment machen sich die Verbraucher oft so viele Gedanken über ihr Essen, dass sie fast krank davon werden. Sie leben in der Grundhaltung des Misstrauens. Was wäre die richtige Einstellung?
Einfach ein bisschen auf sich hören. Wenn wir heute essen, spielen ja die äußeren Umstände oft eine größere Rolle als das Essen selbst. Viele merken gar nicht, was sie gerade essen, weil sie nebenher noch etwas anderes tun, wie zum Beispiel fernsehen. So bekommen sie nicht mit, ob ihnen das Lebensmittel guttut oder nicht. Wenn die Leute mehr drauf achten, wie sie sich nach dem Essen fühlen, und merken, was sie wirklich brauchen, müssen sie gar nicht so viele Bücher lesen. Was aber guttut und was jemand braucht, ist sehr individuell. Wer bei minus zehn Grad auf einer Baustelle Eisen biegt, braucht etwas anderes zu Essen als jemand, der den ganzen Tag am Schreibtisch arbeitet. Man darf es nicht über einen Kamm scheren.

Werden Lebensmittel zukünftig eher als Heilmittel gesehen?
Ich glaube, wenn jemand ausreichend Obst und Gemüse isst, Ballaststoffe zu sich nimmt und in eingeschränktem Maße vielleicht mal ein Stück Fleisch, dann braucht er keine Nahrungsergänzung. Wenn ich mich ordentlich bewege und auch einen geistigen Bezug habe, zum Beispiel einen kirchlichen oder meditativen – es gibt ja ausreichend Studien, die sagen, dass das mindestens so relevant ist, wie gute Nahrungsmittel zu sich zu nehmen –, brauche ich nicht viel Zusätzliches. Trotzdem gibt es Situationen, in denen es nicht ohne geht, entweder weil ich Sonderbelastungen ausgesetzt bin, weil ich zum Beispiel den ganzen Tag im Keller arbeiten muss und daher Vitaminmangel habe oder weil ich als Veganer bestimmte Stoffe brauche und zum Beispiel Algen essen sollte. Da hat Nahrungsergänzung seine Berechtigung. Man muss immer sehen: Welcher Weg ist für wen in welcher Form gangbar?


Der tegut... teo: Ein Hingucker - dank Kunstgeschichte?

Es gibt ja auch eine wachsende Entfremdung gegenüber Lebensmitteln. Wer kocht denn noch? Macht sich das in ihrem Unternehmen bemerkbar?
Es ist schon eine Herausforderung. Es wird immer wichtiger, dass es zum Beispiel in Schulen Lernangebote dafür gibt, wie man mit Lebensmitteln umgeht. Das gehört zu den Grundfähigkeiten: So damit umzugehen, dass möglichst wenig abfällt. Heute läuft es so technisch ab: Die Leute schauen nur auf das Mindesthaltbarkeitsdatum und was darüber hinausgeht, wird weggeschmissen. Der Staat fördert das noch. Vielen ist alles, was nicht wie eine Tiefkühlpizza in den Ofen passt, zu komplex. Es gibt aber auch Leute, die es mit Freude ganz anders machen, die Kräuterkurse belegen und wissen wollen, was man mit Sauerampfer alles machen kann. Es ist nicht alles verloren. Man sieht oft, dass Leute im Laufe ihrer Biografie neue Stufen durchlaufen. Ich sehe da nicht so schwarz.

Wenn man früher ein Stück altes Brot wegwarf, fühlte es sich schlechter an, als wenn man eine alte Tasse in den Müll warf. Heute werfen wir Lebensmittel fast ohne Bauchschmerzen weg.
Auch da wächst das Bewusstsein wieder, gerade bei den Jüngeren. Viele können das Wegwerfen gar nicht ertragen. Aber es stimmt. Wenn man früher Hunger hatte und ein Stück Brot bekam, war man dafür dankbar, hat gebetet und das Kreuz überm Brot geschlagen. Mit dem Schwarzen unter den Fingernägeln wusste man, wie viel Anstrengung da drinsteckt. Man war dankbar für das, was man zum Leben hatte. Jetzt lautet die Frage eher: Wie trenne ich mich sinnvoll von Sachen, die ich in der Überflussgesellschaft angehäuft habe? Da hat plötzlich das Wegschmeißen ein positives Image, da heißt es „Loslassen“. Früher mussten die Kinder den Teller leeressen, heute ist es manchmal klug zu sagen: „Lass mal die Hälfte stehen!“ Auch das hat sich verändert. Viele fragen sich selbst: Warum kaufst du immer  ehr als du brauchst? Ich glaube schon, dass viele Leute ein Gefühl dafür entwickeln. Aber es ist ein neues Gefühl. Man kann nicht sagen: „Ihr müsst das so machen wie früher!“ Aber man kann ein neues Bewusstsein fördern. Auch mit dem Gottesbezug ist es heute schwieriger. Man muss überlegen, über welche Wege man wieder begreift, dass Ernährung auch etwas Geistiges ist. Im Ganzen gibt es viele Initiativen, die heute gegen Verschwendung angehen. In der Summe ist es vielleicht gar nicht schlechter als früher. Ich bin da nicht bereit, mich in einen Kulturpessimismus reinzwängen zu lassen [lacht]. Klar, es geht auch immer etwas kaputt. Es ist wie in der Natur: Etwas muss sterben, damit etwas Neues entstehen kann. Und auf das, was entsteht, muss man einfach hoffnungsvoll drauf schauen.

Kurz noch zum neuen tegut… teo. Stammt die Idee von Ihnen?
Da waren mehrere Menschen beteiligt. Es ist schön, wenn etwas dadurch entsteht, dass man die Gelegenheit hat, in Freiheit nachzudenken. Dann entsteht etwas auf ganz breiten Schultern. Als Unternehmer muss man da immer Raum geben. Ob es was wird – schauen wir mal!

Gibt es schon ein erstes Resümee?
Das Konzept wird gut angenommen, aber ein paar Fragen gibt es noch zu lösen. Es ist vor allem für den ländlichen Bereich spannend. Wir sind ja jetzt in Rasdorf. Aber zur Corona-Zeit ist es schwer, ein Konzept zu beurteilen. Auf jeden Fall sind wir optimistisch.

Macht sich Ihr Kassenpersonal jetzt Sorgen?
Überhaupt nicht. Sie wissen auch, dass die Kunden, wenn man sie bestimmte Dinge selbst machen lässt, mindestens so viel Betreuung brauchen, wie wenn sie es machen würden. Keiner sitzt wirklich gerne um 21:30 Uhr an der Kasse. Es macht mehr Spaß, mit den Kunden einfach mal zu reden, als nur Produkte zu scannen und zu kassieren.



Zuletzt noch eine persönliche Frage. Bismarck sagte mal: „Die erste Generation schafft Vermögen, die zweite verwaltet es, die dritte studiert Kunstgeschichte und die vierte verkommt vollends.“ Hatten sie denn gar keine Lust auf Kunstgeschichte?
Nein, da war ich nicht interessiert [lacht]. Man ist immer gut beraten, wenn man ein inneres Anliegen mitbringt und Gelegenheit bekommt, etwas zu gestalten. Wenn es hier im Unternehmen langweilig wäre, wäre Kunstgeschichte vielleicht besser gewesen. Aber auch jemand, der Kunstgeschichte macht, kann unter Umständen etwas gestalten und sich einbringen. Da sind wir wieder am Anfang: Kreativität muss auch im Handelsunternehmen möglich sein, etwa im Marketing oder in der Ladengestaltung. Zum Beispiel jetzt der tegut… teo: Ohne den Anspruch, dass er auch ästhetisch schön wird, sähe er so aus wie unser erster Versuchscontainer auf dem Parkplatz unserer Firmenzentrale im Gerloser Weg. Das würde die Landschaft verschandeln. Wir wollten es so machen, dass jeder sagt: „Gut, dass das hier steht!“ Ästhetik gehört dazu. Eigentlich ist man gefordert, die Kunstgeschichte ins Unternehmen zu integrieren!

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