Werte haben keine Würde
Ein Zwischenruf von Arnulf Müller
In der Fußball-Kreisliga wird ein Schiedsrichter von einem Spieler niedergeschlagen. Sperrmüll wird unerlaubt neben Altglascontainern abgestellt. Ein Junge wird auf ein Bahngleis gestoßen und vom Zug überrollt. Gemeinnützige Stiftungen zahlen für ihr gespartes Geld Minuszinsen.
Es scheint, als habe all dies nichts miteinander zu tun. Hat es aber. Denn stets fand sich einer, der solche Nachrichten zum Anlass nahm, sich öffentlich über den „Werteverfall“ zu empören.
Alles verfällt. Gebäude, Lebensmittel, Gutscheine. Irgendwann ist die Zeit abgelaufen. Was kommt, muss wieder gehen. Auch Werte? Unserem Herzen nach können wir das nicht zulassen. Werte altern ja nicht wie ein Kopf Salat. Oder doch? Zwar räumen wir ein, dass das, woran wir uns heute klammern, nicht immer galt. Das lag aber nur daran, dass manche Werte erst entdeckt werden mussten. Etwa in der Epoche der Aufklärung. Aber ein Haltbarkeitsdatum haben sie natürlich nicht. Wir wollen, dass sie so belastbar sind wie mathematische Gesetze: Zwei plus zwei bleibt vier, selbst wenn der Erdball in die Sonne stürzt.
So hätten wir es gerne, aber so ist es nicht. Auch wenn wir von „universellen“ Werten oder gar von „ewigen“ sprechen: Werte „gibt“ es nur, insofern Menschen werten. Und eben dies verändert sich in der Weise, wie sich der Mensch verändert. Die Werte sind zudem nur abstrakte Resultate eines nachträglichen Ordnens. Im Moment des Handelns und Urteilens denken wir nicht an sie, sondern ergreifen unmittelbar, was uns als schicklich und sittlich erscheint. Maßgeblich dafür ist ein Gemisch aus Empfindungen, Einsichten und Anerzogenem, ohne dass wir immer genau wüssten, weshalb uns manches werthaltiger erscheint als anderes.
Bewertungen durchziehen unser Leben, und dies ist keine Nebensache. Wer jemand ist, hängt stark mit dem zusammen, wofür er steht. Werte stiften Identität: Weil Paul diese oder jene Wertentscheidung verkörpert, fühlt sich Klaus ihm verbunden ‒ oder gerade nicht. So verbünden oder distanzieren sich Menschen, selbst Staaten. Werte regeln Zugehörigkeit, schaffen Stabilität, bergen aber auch Potential für Kämpfe bis aufs Messer. Das macht die Sache heikel. Weil wir unsere Werte gleichsam „sind“, verlieren wir bei diesem Thema schnell die Nerven. Es geht uns zu nahe
Auf Werte beruft sich derjenige, der Flüchtlinge in seinem Wohnzimmer einquartiert, aber auch derjenige, der sie in ihr Kriegsland zurückschickt. Beide fühlen sich durch Werte gebunden und werfen dem anderen vor, Werte zu verraten. Auf Werte beruft sich der Christ, aber eben auch Hitler benutzte das Wort, etwa wenn er von den „ewigen inneren Werten“ des „deutschen Volkes“ sprach. Man muss schon sagen, was man meint. Es genügt nicht, von „den“ oder „unseren“ Werte zu reden, wie es im öffentlichen Diskurs inzwischen üblich ist.
Wollen wir also nicht alles der Willkür überlassen, müssen wir um Wertungen streiten. Dabei müssen wir uns die einzelnen Werte aber auch genau ansehen und deren Reichweite und Grenzen erkunden. Das verlangt zuweilen, gegen uns selbst zu denken. Denn auch so hohe Werte wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Treue oder Freiheit führen, wenn man sie verabsolutiert, zu schiefen Verhältnissen: Wenn ein Gerechtigkeitsfanatiker anfängt, den Kuchen bis aufs Zehntel Gramm genau zu verteilen, spüren wir, dass etwas nicht stimmt. Niemand möchte einen Konzertchor hören, bei dem jeder das gleiche Recht hat mitzusingen - völlig unabhängig von Stimme und Talent. Treue zum Partner oder Freund kann in sklavische Loyalität umschlagen. Und niemand befürwortet Freiheit, wenn sie sich in Beliebigkeit verliert und auf Kosten anderer geht.
Wer die grenzenlose Geltung eines Wertes fordert, handelt sich unheilvolle Konsequenzen ein. Jeder Wert hat eine innere Grenze, und je mehr wir in dieser Frage ehrlich sind, desto konstruktiver wird der Dialog über Werte sein.
Doch solches Nachdenken ist mühsam. Es erfordert einen klaren Blick, wo meist nur Nebel ist. Um Klarheit scheint es in unserer Öffentlichkeit allerdings immer weniger zu gehen. Es wird nicht nur nichts dafür getan, dass sich der Nebel lichtet, es werden zusätzlich Nebelkerzen geworfen. Etwa mit der diffusen Rede vom Werteverfall oder der quasi-sakralen Beschwörung von „unseren Werten“.
Werte verführen zur Schwärmerei, zum hohlen Pathos, zur Suggestion. Das ist gefährlich in einer Zeit, in der sich Politik zunehmend in Medienpolitik erschöpft. Selbst viele Politgrößen aus der Provinz schielen permanent darauf, wie öffentlichkeitswirksam eine Maßnahme ist. Noch bevor der erste Schritt getan ist, werden die Redaktionen mit Pressemeldungen zugeschüttet. Die öffentliche Kommunikation absorbiert das ganze Geschäft. Darunter leidet auch der Umgang mit Werten. Mit dickem Filzstift werden sie in Programme und auf Wahlplakate gemalt. Denn es gilt, die Zeitgenossen zu mobilisieren, damit sie ihren Hintern sporadisch aus ihrem Smart-Home erheben und ins Wahlbüro schlurfen. Das geht wunderbar über das Antriggern von Wertgefühlen. Etwa indem man Drohkulissen inszeniert: den um sich greifenden Sittenverfall, den Niedergang des Abendlandes, die Bedrohung von Außen. Da packt man die Menschen bei ihren Emotionen, und vor allem: Da bringt man sich so herrlich selbst in Stellung. Denn derjenige, der den Werteverfall brandmarkt, meint ja nie sich selbst. Er übernimmt die Rolle des Hüters und Bewahrers, und je schärfer er den Verfall zeichnet, desto mehr leuchtet seine eigene feine Gesinnung hervor. Schneidig ergreift er jedes sich bietende Mikrophon, um an unsere Werte zu erinnern. „Liebend gerne“ nimmt er jede Einladung zum Grußwort an, weniger um zu grüßen, sondern vielmehr um vor aller Augen und Ohren sein Profil zu schärfen. Da genügt es dann schon, ein bisschen mit Begriffen wie „Menschlichkeit“, „Toleranz“ und „Respekt“ um sich zu werfen.
Vielleicht ist es gerade diese Selbstgefälligkeit im Reich des Moralischen, die unsere Kultur nachhaltiger beschädigt und aushöhlt als die offenen Angriffe und Anfeindungen von außen. Angriffe von außen erzwingen Besinnung, Selbstvergewisserung. Zwiespältige Appelle von innen wecken Misstrauen. Weil sie die Sache, um die zu streiten wahrlich lohnt, unglaubwürdig machen, weil sie sie beschmutzen. Wer glaubt denn wirklich, dass auch nur ein einziger Mensch seinem Herzen eine neue Wendung gab, weil er auf solche Weise an „die Werte“ erinnert wurde?
Werte haben keine Würde. Menschen schon. Deshalb sind es am ehesten die unmittelbaren Erfahrungen, die eine Umwendung des inneren Kompasses bewirken können. Verstockte Existenzen öffnen sich in der Begegnung mit dem Einzelnen, durch die Konfrontation mit einem Du. Etwa wenn die Not im Antlitz eines Menschen unmittelbar ablesbar ist, und er aufhört, nur noch Teil einer medialen Definitionsmasse zu sein. Es hat einen konkreten räumlichen Sinn, dieses Wort von der Nächsten-Liebe. Das ist die Basis unserer Kultur. Doch auch sie wird in der arg bequemen Rede von den „christlichen Werten“ vernebelt. Jesus hat nie in Abstrakta gesprochen. Hätte er die Menschen an Werte erinnert, wäre sein Name nicht über Galiläa hinausgedrungen. Seine Ethik hat ihr Zentrum in der Nahwelt, zielt auf das konkrete Du ‒
und nur dorthin. Deswegen schrieb sie Geschichte.
Also lieber nicht über Werte sprechen? Über unser Werten zu sprechen und für ein kluges und verständiges Werten zu streiten, ist unabdingbar. Gerade in einer auf freier Wirtschaft fußenden Gesellschaft müssen wir für das kämpfen, was sich in unserer Tradition als wertvoll und wahr herauskristallisiert hat. Schließlich kann jeder ethische Konsens kurzerhand durch ökonomische Interessen ausgehebelt werden. Aber dies verlangt viel von uns: eine gute Kenntnis der Überlieferung, ein tiefes Verständnis vom menschlichen Dasein, einen kühlen Kopf sowie ein warmes Herz. Und nicht zuletzt ein feines Gespür gegenüber unguten Überhöhungen. Je höher wir die Werte hängen, je mehr wie sie als „Glaubensgegenstände“ verstanden wissen wollen, desto eher geht ihnen die Luft aus. Überschwang und gespielte Schneidigkeit bewirken Wertentleerung. Die Gegner unserer Wertegemeinschaft spüren das falsche Pathos sehr genau. Es ist der sicherste Weg, sie aufzubauen.