Wir leihen eine Oma

Manche Familien leihen sich einen Kleinwagen. Andere leihen sich Geld. Und wieder andere leihen sich eine Großmutter. Ob das geht?

„Wir bleiben (heute?) hier!“, verkünden die Kinder der Leih-Oma, Frau Silvia Busch. Kein Wunder, denn diese wohnt in einem kleinen Fachwerkhäuschen tief im Wald, wo sie sich weitgehend selbst versorgt. Abenteuerlich ist es bei Frau Busch. „Ich hatte sie mir ganz anders vorgestellt. Sie sieht gar nicht aus wie eine Oma“, überlegt der Enkel. Aber wie kommt man darauf, eine Großmutter zu „leihen“? Und was genau verleiht eine Großmutter: ihre Zeit? Ihre Aufmerksamkeit?

„Meine Leih-Enkel haben auch leibliche Großeltern. Die wohnen aber sehr weit weg; das macht es schwierig, sie regelmäßig zu besuchen“, erklärt die 64-Jährige. Dabei gibt es so viele Dinge, die die Kinder von der älteren Generation lernen können. Wie die Liebe zur Natur etwa – gerade im Zeitalter von Smartphone und WhatsApp. „Hier gibt es Schafe, Pferde und Hunde“, erzählt sie und zeigt auf den Stall hinter dem Haus. „Wir gehen bei jedem Wetter raus. Laura und Christian helfen mir, die Tiere zu füttern, und dürfen auch mal reiten. Schon beim ersten Mal waren sie so begeistert, dass sie am liebsten bei mir einziehen wollten.“

In diesem Moment werden die Tiere unruhig. Die Streicheleinheiten der Kinder werden ihnen offenbar zu viel. Frau Busch hat die Situation im Auge. „Jetzt kommt mal wieder her“, ruft sie den Kindern zu. Sie sieht es gelassen. Vielleicht sind es gerade diese Ruhe und Gelassenheit, die Kinder an der älteren Generation zu schätzen wissen.

In einer anderen Familie wünscht sich das Elternpaar ebenfalls, dass die Leih-Oma mit ihrem Kind viel draußen unternimmt. In diesem speziellen Fall sind sowohl Vater als auch Mutter an Multipler Sklerose erkrankt. Größere Unternehmungen mit dem Kind sind unmöglich. Deshalb stehen auf dem Programmzettel der Leih-Oma: Wandern, Kastanien sammeln oder ein Wasserkuppenbesuch. Bei solchen Aktionen sind die rüstigen Damen oft fitter als die Kinder selbst. „Neulich waren wir spazieren”, erzählt die Seniorin, „und auf dem Rückweg sagte mein Enkel: Warte, Oma, meine Beine sind so schlapp.“ „Oma” hat das Kind gesagt – und das ist nicht selbstverständlich.

Viele werden von den Gast-Kindern einfach beim Vornamen gerufen. „Das ist völlig in Ordnung. Wir wollen ja nichts erzwingen, sondern eine Beziehung aufbauen“, sind sich die Leih-Großmütter einig. Schön, wenn diese einige Jahre andauert. Oder sogar länger. Auch ältere Kinder wissen die neue Freundschaft zu würdigen. „Das Mädchen, das ich betreue, zeigt mir gerne, was es schon alles kann. Es braucht dann ein bisschen Beifall“, berichtet eine weitere Leih-Oma. Auch bei ihr bekommen die Kinder eine andere Art der Aufmerksamkeit geschenkt als im Elternhaus. Das kann mal mit Lob, mal mit Regeln zu tun haben.

„Ein paar grundlegende Dinge dürfen auch wir als Leih-Oma dem Kind beibringen“, findet Frau Schmitt. „Zum Beispiel Ordnung zu halten. Oder dass man sich nicht alles kaufen kann, was man haben will.“ Manchmal müssen die Leih- Großeltern den schmalen Grat zwischen lebendiger Freizeitgestaltung und dem Setzen von Grenzen meistern. „Deswegen suchen wir engagierte, liebevolle Personen ab Mitte fünfzig“, wünscht sch Susanne Roser vom Verein „Miteinander – Füreinander – Oberes Fuldatal e. V.“ Die Sozialpädagogin betreut das Projekt, organisiert erste Treffen zwischen Leih-Großeltern und Familien und begleitet den Kontakt. „Natürlich möchten wir auch Großväter einbinden. Bisher haben sich viel mehr Frauen als Männer gemeldet.“

Anders als in der eigenen Familie müssen bei einem solchen Verhältnis auch rechtliche Fragen geklärt werden.

„Die Leih-Großeltern brauchen zum Beispiel eine Einverständniserklärung der Eltern, wenn sie Kinder im Auto mitnehmen wollen“, sagt Frau Roser. „Außerdem müssen vorher bestimmte Dinge geklärt werden, zum Beispiel, ob das Kind eine Nahrungsunverträglichkeit hat.“

Denn manche Leih-Großmütter möchten nach der Schule auch für ihre Enkel kochen – zum Beispiel, wenn alleinerziehende, berufstätige Mütter keine Zeit dafür finden. Sind solche Fragen aber erst einmal geklärt, läuft es meist reibungslos.

Ob die Leih-Großeltern auch eigene Enkel haben, spielt keine Rolle. Hauptsache, sie haben Interesse an Kindern und können sich auf sie einlassen. „Meine Enkelin schlägt mich im Memory-Spiel“, staunt Frau Jäger – wie überhaupt auch Leih- Großeltern viel von dieser Beziehungsform profitieren. Vielleicht verdankt sie es eines Tages „ihrem“ Enkel, dass sie dann mit einem Computer umgehen kann. Und auch auf der emotionalen Seite kommt viel zurück. Durch die Kinder fühlen sich die Leih-Großeltern gebraucht. „Mir war klar, dass ich nach meiner Pensionierung etwas machen muss“, sagt eine Leih-Oma. „Sonst verliert man leicht den Anschluss.“ Die anderen stimmen zu. „Wir sind damit reich beschenkt. Vielleicht genauso, wie die Familie durch uns beschenkt ist.“ Ein perfekter Seitenwechsel also.

Dass es für die Kinder keine Pflichtbesuche sind, bekommen die Leih-Omis sehr bald zu spüren. „Mein Enkel hat mir zu Weihnachten ein Vogelhaus gebaut“, erzählt Frau Busch. „Jetzt sieht er bei jedem Besuch nach, ob ich es auch wieder aufgefüllt habe.“ Und darauf kann er sich verlassen.

Anna-Pia Kerber

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