Wir müssen einfach kreativer denken
Jürgen Dusels Berufsbezeichnung liest sich sperrig. Er ist der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. So klingt es, wenn es korrekt sein muss. Dabei ist er jemand, der die Dinge ohne Schnörkel benennt. Als Jurist versteht er sein Amt angenehm politisch und verbindet es mit klaren, auch unbequemen Forderungen. Michaela Lengsfeld, Geschäftsführerin von antonius - Netzwerk Mensch, sprach mit ihm für das SeitenWechsel-Magazin anlässlich seines Besuches in Fulda.
Michaela Lengsfeld: blau
Jürgen Dusel: schwarz
Herr Dusel, nie zuvor wurde so viel über die Rechte von Menschen mit Behinderungen gesprochen, nie zuvor wurden so viele Weichen gestellt, um Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Sind wir auf dem Weg in ein rosiges Zeitalter? Braucht es überhaupt noch einen Beauftragten?
Wir haben uns auf den Weg gemacht, aber das rosige Zeitalter ist noch nicht in Sicht. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist jetzt zehn Jahre in Kraft, und zehn Jahre sind in der Behindertenpolitik keine lange Zeit. Es hat sich viel verändert. Wir sind auf dem Weg hin zu einer Gesellschaft, in der es normal ist, verschieden zu sein. Aber wir sind noch lange nicht am Ende der Fahnenstange angekommen. Und braucht es noch einen Beauftragten? Na, ja, wenn Menschen mit Behinderungen wirklich gleichberechtigt wären, bräuchte es ihn nicht mehr. Aber wir sind noch nicht so weit. Es braucht Menschen, die sich dafür einsetzen, damit es weitergeht. Wenn man auf einem solchen Weg ist, ermüdet die Gruppe auch. Wenn es beim Wandern anfängt zu regnen oder andere Widerstände auftauchen, muss man durchhalten. An dem Punkt sind wir gerade.
Welche Widerstände gibt es?
Es gibt zum Beispiel Leute, die meinen, es geht zu schnell mit der Inklusion. Aber es geht dabei nicht um irgendetwas Nettes oder Humanes oder auch Christliches – das natürlich auch. Es geht vor allem aber um die Umsetzung von fundamentalen Grundrechten. Menschen mit Behinderungen sind Bürger dieses Staates. Sie haben genau die gleichen Rechte wie alle anderen auch. Es ist Aufgabe des Staates, nicht nur diese Rechte zu gewähren, sondern – und da meine ich Bund, Länder und Kommunen – dafür zu sorgen, dass diese Rechte ankommen und gelebt werden.
An Ihrem Lebenslauf kann man ablesen, wie man auch mit körperlichen Einschränkungen weitgehend unbehindert leben und beruflich erfolgreich sein kann. Empfinden Sie sich überhaupt als „behindert“? Muss man dieses missverständliche Wort nicht verabschieden?
Wir diskutieren ja häufig über die Worte und ich glaube auch, dass Sprache wichtig ist, weil sie unser Bewusstsein prägt. Ob wir „Menschen mit Behinderungen“ oder „behinderte Menschen“ sagen sollten, ist für mich aber zweitrangig. Wichtig ist festzustellen, dass Menschen durch Barrieren in der Umgebung und durch Barrieren in den Köpfen von anderen behindert werden. Deswegen finde ich den Begriff „behindert“ richtig. Es geht um die Wechselwirkung und nicht um die Person, die in irgendeiner Weise defizitär beschrieben wird. Ich erlebe das selbst natürlich auch, das ist Teil meines Alltags. Wenn ich nach dem Weg frage, kriege ich manchmal gesagt: „Können Sie nicht lesen?“ Oder die Situation, dass es Treppenstufen gibt, die nicht markiert sind, oder dass Stangen irgendwo rumstehen. Dann wird mir im wahrsten Sinne des Wortes schmerzhaft bewusst, dass ich tatsächlich mit einer Einschränkung lebe.
Wir sprechen in diesem Sinne von einer sozialen Behinderung.
Ja, natürlich. Man muss sich klarwerden, dass in Deutschland über 13 Millionen Menschen mit einer Behinderung leben, wobei die Gruppe komplett heterogen ist. Deswegen sind die Anforderungen an Inklusion auch sehr unterschiedlich. Das ist in der breiten Bevölkerung noch nicht so richtig klar. Wir diskutieren Inklusion sehr, sehr stark im Bereich Bildung, und das ist auch wichtig. Ich selbst habe sehr davon profitiert, dass ich auf einer sogenannten Regelschule Abitur gemacht habe. Aber nur 4 % aller Menschen werden mit der Behinderung geboren, mehr als 90 % bekommen eine Behinderung weit nachdem sie zur Schule gegangen sind. Für die sind ganz andere Themen wichtig: Behalte ich meinen Job? Komme ich zu meinem Arzt? Ist der Wohnraum barrierefrei? Kann ich die Medien nutzen? In den Urlaub fahren? Und da reden wir nur über den öffentlichen Bereich und noch nicht über die privaten Anbieter von Produkten und Dienstleistungen.
Werden wir es jemals schaffen, alle Barrieren abzubauen?
Wir können uns annähern. Barrierefreiheit ist ein hehres Ziel, das wir immer anstreben müssen. Es gibt aber – beispielsweise im städtebaulichen Bereich – manchmal die Situation, dass Barrieren für andere wichtig sind. Das klassische Beispiel ist der Bordstein. Wenn er abgesenkt wird, ist das für Rollstuhlfahrer super, für Leute mit Langstock, die das tasten müssen, ist er aber notwendig. Aber es gibt gute Lösungen.
Unlängst forderten Sie, dass Unternehmen, die zwanzig oder mehr Angestellte haben, aber keinen einzigen Menschen mit Behinderung einstellen, eine deutlich höhere Abgabe bezahlen sollten als bisher. Braucht es trotz breiter Diskussion und gesellschaftlicher Sensibilisierung auch in Zukunft noch solche Zwangsinstrumente?
Ja, weil wir uns an die Regeln halten müssen, die wir uns gegeben haben. Ich stehe dazu, weil ich feststelle, dass ein Viertel aller beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber in Deutschland – das sind 41 000 –, die eigentlich 5 % ihrer Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzen müssten, keinen einzigen beschäftigen. Es geht mir nicht um die Arbeitgeber, die vielleicht nur 3 % oder 2 % schaffen, sondern wirklich nur um die Gruppe, die keinen einzigen beschäftigen. Und das Argument: Dann zahle ich lieber die Ausgleichsabgabe und kaufe mich frei – das stimmt ja nicht: Jeder, der die Ausgleichsabgabe zahlt, bleibt trotzdem beschäftigungspflichtig. Nebenbei: Es ist sogar ein Ordnungswidrigkeitstatbestand. Er wird nur nicht verfolgt.
„Menschen mit Behinderungen können einen super Job machen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen“
Ich will aber nicht nur mit Negativmotivation arbeiten. Ich werbe sehr dafür, weil ich sage: Menschen mit Behinderungen können einen super Job machen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Wir haben in Deutschland noch nie so viele sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mit schwerbehinderten Menschen gehabt, nämlich mehr als 1,2 Millionen. Es wird also täglich bewiesen: Es funktioniert.
Wir müssen aber auf der anderen Seite auch das Leistungsrecht ändern. Wenn heute ein Arbeitgeber sagt, diesen Menschen mit Behinderung würde ich einstellen, dann kommt am Montag jemand von der Bundesagentur, am Dienstag sagt das Integrationsamt etwas dazu, am Mittwoch kommt der Integrationsfachdienst vorbei und am Donnerstag vielleicht noch der Arbeitsschutz. Da sagen kleine und mittelständische Unternehmen: Das ist mir zu kompliziert, das mache ich nicht. Vor diesem Hintergrund ist mein Vorschlag, die Leistungen wie beim BTHG wie aus einer Hand zu gewähren. Es gibt einen einzigen Rehaträger, der hat die Strukturverantwortung und bietet alles an.
Auch in Bezug auf die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfBM) fordern Sie ein Umdenken. Statt solche Werkstätten als Dauerlösung zu sehen, sollten sie möglichst vielen Menschen den Übergang auf den ersten Arbeitsmarkt ermöglichen. Die Werkstätten sollen sich in eine Art Arbeitsschule, in eine Übergangsstation wandeln –
ähnlich wie unsere Startbahn es ist.
Dies wird von vielen Trägern kritisch gesehen. Sie verweisen auf die große Zahl von Personen, die aufgrund starker Einschränkungen und hohen Pflegebedarfs kaum vermittelbar sind. Sie fürchten, dass dann erst recht Sonderwelten entstünden, weil die „Starken“ sogleich die Werkstatt verlassen und dort dann kaum noch echtes Arbeiten möglich sei. Können Sie solche Bedenken nachvollziehen?
Wir müssen einfach kreativer denken. Die Wahrheit liegt ja meist in der Mitte. Ich teile nicht die Auffassung der Vereinten Nationen, dass Deutschland die Werkstätten abschaffen sollte. Wenn wir es ernst meinen mit dem Satz „Nichts über uns ohne uns!“, müssen wir mit den Menschen reden, die jetzt in der Werkstatt sind. Da geht es nicht nur um das Thema Arbeiten, sondern in Werkstätten findet auch viel soziale Interaktion statt. Die Leute fühlen sich dort geborgen, das müssen wir berücksichtigen. Der zweite Punkt ist aber, dass uns die UN-Konvention in Art. 27 eine Richtschnur vorgibt. Wir müssen zumindest Alternativen anbieten und das wünsche ich mir auch von Trägern. Menschen mit Behinderungen müssen ein Wahlrecht haben. Wirklich wählen kann ich aber nur, wenn ich zumindest zwei Alternativen habe. Oft ist es so, dass Leute determiniert sind: Einmal im Sondersystem, immer im Sondersystem. Wenn man sich die Zahlen anschaut, sieht es tatsächlich so aus, dass es fast keine Übergänge aus der Werkstatt in den allgemeinen Arbeitsmarkt gibt. Damit will ich nicht den Werkstätten die Schuld zuweisen, aber man muss überlegen, womit das zusammenhängt. Ich bin der Meinung: Wir sollten mehr in Inklusionsunternehmen investieren. Wir werden in 25 Jahren Strukturen haben, die uns heute illusionär vorkommen.
Haben sie eine Idee davon, wie das sein könnte?
Ich könnte mir vorstellen, dass Werkstätten zu Kompetenzzentren werden, die auf den Arbeitsmarkt einsteigen und Leute auch außen begleiten können. Es wird immer Situationen geben, dass Menschen ein besonderes Setting brauchen, aber ob das wirklich so weitergehen muss, wie wir es jetzt haben? Wolf Biermann hat gesagt: „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.“ Das gilt auch für Werkstätten.