„Wir nehmen hier genauso viel mit, wie wir herbringen.“
In der Rhön ist Johnny Wirth kein unbekanntes Gesicht. Auffällig, mit langem Zopf und wilden Tattoos, steht er an der Seite seines Vaters auf der Bühne und traktiert Mandoline und Kontrabass.
Wenn die „Grasmücken“ ihr Lied von der Milseburg anstimmen, singt der Saal mit – Immer.
Sein Leben, das sind die nordischen Länder, die Achse zwischen Irland und Norwegen. Nicht nur der Musik wegen. In den Adern fließt Wikingerblut, gefühlt zumindest. Im Kleiderschrank hängt ein original Schottenrock. Um sein Studium der Skandinavistik zu finanzieren, steht er immer wieder am Fließband in der Gummi, macht Schichtbetrieb. Eigentlich war sein Berufswunsch Bestatter. Doch im Raum Fulda gab es kaum Ausbildungsplätze.
Beruflich kann sich Johnny mittlerweile viel vorstellen. Und wer ihn erlebt, wird kaum daran zweifeln, dass dieser offenherzige und lebensfrohe Kerl das Richtige finden wird. So einer macht immer sein Ding.
Arnulf Müller hat Johnny – eigentlich Jonathan – gefragt, warum er einmal in der Woche die Seite wechselt. Samstags. Da macht er nämlich nicht sein Ding. Da besucht er gemeinsam mit seinem Cousin Tobias die Wohngemeinschaft Goretti des Antoniusheims. Regelmäßig. Seit acht Jahren. Da ist er der Freizeit-Joker von Arno, Doro, Klaus, Erika und den anderen Bewohnern. Und macht so doch wieder sein Ding.
Johnny, ich darf doch du sagen?
Klar!
Was hast du da eigentlich auf deinem Arm?
Das altnordische Runen-Alphabet, das Futhark, das bei den Wikingern im Gebrauch war. Alle Tatoos sind symbolische Bilder meiner Biografie – Aspekte, die mich ausmachen.
Wie kamst du auf die nordischen Länder?
Die Liebe zu Schottland und Irland kam natürlich von der Musik her. Zu den Wikingern und zu Island und Norwegen kam ich über die Mythologie. Und als ich keine Ausbildungsstelle bekam, dachte ich mir, da kannst du auch studieren gehen – und kam auf Skandinavistik. Man lernt norwegisch, dänisch, altnordisch und zur Zeit mach ich noch Latein. Bin jetzt im achten Semester.
Und was willst du damit einmal machen?
Schwierig. Ist halt alles weit weg vom Alltag. Das ist alles hochinteressant, doch manchmal frag ich mich schon: Was machst du da eigentlich? Aber ich komme gerade aus der Fabrik und weiß ziemlich genau, was ich nicht machen will: Fabrikarbeit, Fließbandarbeit und Schichtarbeit.
Ursprünglich wolltest du ja mal Bestatter werden. Wie kommt man denn mit 16 auf diese Idee?
Man ist nicht im Büro eingeschlossen. Jede Beerdigung ist irgendwie anders. Man muss auf die Leute zugehen, sehen, was machbar ist. Hat etwas mit Pathos zu tun. Es hat was Handwerkliches, jemanden herzurichten, vielleicht auch Särge kreieren. Vor allem: Es fordert einen geistig und seelisch. Der Tod ist ein Ding, an dem keiner vorbeikommt. Ich hab mir einfach gedacht: Was kann ich? Und das ist vermutlich etwas, das können nicht viele. Es ist heute immer noch eine Option, die im Hinterkopf herum geistert.
Ungefähr zur selben Zeit, also mit 16, bist du auch mit deinem etwas jüngeren Cousin Tobias ins Antoniusheim gegangen und hast gefragt, ob ihr da etwas machen könnt. In diesem Alter haben Jugendliche oft ganz andere Ideen. Was war euer Anstoß?
Drauf gekommen sind wir, nachdem die Schwester von Tobias, also meine Cousine, gestorben war, die hatte Trisomie 18. Marie-Christine war fest in die Familie integriert. Die Zeit, die wir mit ihr verbrachten, lenkte den Blick von uns pubertierenden Jugendlichen auf etwas anderes. Wenn wir mit der Kleinen unterwegs waren, entwickelte man so ein bisschen ein anderes Bewusstsein vom Leben.
Als sie dann mit 7 Jahren starb, hatten wir das unbestimmte Bedürfnis, etwas mit Behinderten zu machen. Auch mit der Intention, irgendetwas zurückzugeben.
Etwas zurückzugeben?
Ja, das war so eine Schlüsselsache. Marie-Christine war durch die Chromosmenschädigung vom Status her 100 % behindert. Man wusste nicht, was bei ihr noch ankommt und was nicht – aber sie war definitiv eine Persönlichkeit! Sie hatte Lieblingsstellen unter Bäumen, das war das Tollste für sie. Sie war auch das Familienleben gewöhnt. Und wenn wir ein bestimmtes Musikstück spielten, war das eine riesige Freude für uns zu merken, dass sie es erkennt und es ihr gefällt. Das war‘s: auf primitivste Weise kommunizieren! Das war in der Art und Weise einfach faszinierend. Das ist das, was uns kultivierten und zivilisierten Menschen abgeht, weil wir so stark damit beschäftigt sind, wie man ‘rüberkommen möchte. Das spielt hier absolut keine Rolle.
Ihr wolltet also irgendwie dranbleiben an diesen Erfahrungen. Ihr seid dann einfach ins Antoniusheim reingeschneit und habt gesagt: „Hallo, hier sind wir, und wir wollen was machen!“
Ja. Das Antoniusheim war die erste Adresse, ist eben stadtbekannt. Wir haben mit Lutger Herbert, der für das Ehrenamt zuständig war, ein kurzes Gespräch geführt. Er hat gesagt: „Ich finde das klasse, dass ihr das machen wollt. Aber ihr müsst auch verlässlich sein. Wenn, dann müsst ihr regelmäßig kommen. Sich das drei Wochen angucken und dann ohne eine Wort wieder verschwinden, das geht nicht.“
Da waren wir 16. Gut, für uns war das einfacher, weil wir es zusammen gemacht haben. Weiß nicht, ob ich es alleine gemacht hätte. So waren wir zu zweit unterwegs, was soll schon passieren?
Erzähl mal, wie das gerade am Anfang war?
Das erste halbe Jahr war schon eine Umgewöhnungsphase. Hier sind alle älter als wir. Am Anfang waren wir noch ein bisschen reserviert. Der Arno z.B. hat eine Eigenaggression, schlägt sich selbst. Wir waren das erste Mal hier, und er hatte gerade so einen Schub. Da dachten wir: Wo sind wir jetzt hineingeraten? Nach einem halben Jahr fällt auf, dass diejenigen, vor denen man anfangs ein bisschen Muffe hatte, die Harmlosesten überhaupt sind, und dass diejenigen, die man lange Zeit als völlig harmlos erlebt hat, auch mal ihre dollen fünf Minuten bekommen. Es ist wie überall mit neuen Leuten. Irgendwann kennt man seine Pappenheimer, und dann ist es klasse.
Und die Betreuer haben euch gleich machen lassen?
Wir sind am Anfang nicht mit 10 Mann zum Spazieren rausgeschickt worden. Immer nur überschaubare Gruppen, meist drei Leute, welche recht unkompliziert waren. Mittlerweile gehen wir, wenn wir zu zweit sind, mit der ganzen Mannschaft spazieren. Wir machen oft etwas ganz Eigenes mit den Leuten. Wir stimmen uns mit den Begleitern ab, dann haben die mal den Rücken frei, können ihre Dienstbesprechung machen oder Pläne ausarbeiten.
Was glaubst du, bringt das den Bewohnern?
Was nicht unwesentlich ist: Die kommen mal aus dem Trott raus. Klar, man versucht im Antoniusheim immer etwas zu machen, damit es nicht langweilig wird, Skifreizeiten oder so. Aber mit uns beiden Freiwilligen haben sie halt noch einen Joker. Da macht man auch mal dies oder jenes. Und auf Ausflügen sind zwei Augenpaare mehr dabei. Außerdem sind wir Musiker und haben manchmal meinen Vater dabei, z.B. am Gorettifest. Da kommen die Familien der Bewohner mit dazu, es wird gegrillt oder gewandert, und meistens machen wir Musik. Auch an der Weihnachtsfeier. Gitarre, Bass, Mandoline, alles ohne Anlage. Die Bewohner haben uns mal schwer überrascht, als sie zum Konzert im Kulturkeller auftauchten. Da haben vorher alle dichtgehalten. Sie schreiben auch immer eine Postkarte aus der Ferienfreizeit. Einfach schön!
Wenn man das so hört, denkt man, du müsstest doch eigentlich einen Sozialberuf ergreifen…
Sozialberuf war anfangs mal ‘ne Überlegung, aber so, wie es jetzt ist, machen wir es aus Freude – einfach so, weil es uns etwas gibt und weil wir den Leuten hier etwas mitgeben. Aber wenn man das täglich macht und vielleicht noch Probleme mit dem Arbeitgeber hat... Wenn‘s einem in der Fabrik nicht passt, kann man die Brocken hinwerfen. Hier ist das anders.
Also bleibt es beim Ehrenamt?
„Ehrenamt“ hört sich irgendwie nach Arbeit an. Das ist es ja nicht. Wir sitzen hier, trinken gemeinsam Kaffee, gehen ins Schwimmbad oder spazieren, das ist in dem Sinn keine Arbeit für uns. „Ehrenamt“ passt nicht. Wir gehören hier einfach zum Inventar.
Sprichst du dann lieber von „sozialem Engagement“?
Nein, wir nehmen hier genauso viel mit, wie wir herbringen. Manchmal ist man nicht fit, hat ewig nicht gepennt. Dann kommt man hier her, und wenn man zwei Stunden später rausgeht, hat man den Kopf wie- der frei. Ich fühl mich danach immer besser. Nicht so, dass man sagt, ich hab mein Soll erfüllt, sondern: Die Gorettis sind mit so einfachen Sachen zu begeistern. Man kommt hierher und ist ok, einfach nur dadurch, dass man wieder „Hallo“ sagt. Die sind auch alle so ehrlich, nicht irgendwie hinterrücks. Es macht sich keiner wichtig hier. Hin und wieder haben sie schon ´nen Schalk im Nacken – lassen dich schön die Schuhe binden, obwohl sie das selbst können. Da sind sie auf einmal schrecklich behindert: „Ach, ich krieg die Jacke nicht zu! Kannst´e mir mal die Nase putzen?“ Irgendwann bekommst du mit, dass sie das alles perfekt können – und du hilfst Ihnen jetzt schon vier Jahre dabei.... [lacht].
Manchmal stellt man sich Fragen anlässlich bestimmter Vorfälle. Eine Frage, die wir uns oft gestellt haben: Wer hat´s eigentlich besser? Ich kenne natürlich den Unterschied und bin himmelfroh für das, was ich kann. Auf der anderen Seite: Das hier ist ein einfacher, aber geregelter Alltag. Das Ganze ist sehr harmoniebedürftig. Alle sind sehr sozial, versuchen einander zu helfen.
Wir haben unsere Erfahrungen auch mal in ein kleines Lied gepackt, „Sterne“ heißt das. (siehe Seite 11 ).
Johnny, ich danke dir für das interessante Gespräch.
Keine Ursache!