„Wir nehmen uns immer selbst mit”

26 Jahre lang stritt Hildegard Hast als Frauenbeauftragte im Fuldaer Stadtschloss für Gleichberechtigung. Dabei hat die couragierte Frau viel erreicht, auch wenn sie oft männliche Herablassung erfuhr und ihr althergebrachtes Frauendenken entgegen wehte. Als sie 2016 die Altersgrenze erreicht hatte, kündigte sie an, eine Art Tagebuch über ihren Ruhestand schreiben zu wollen. “Ich bin gespannt herauszufinden, wer ich ohne die Arbeit bin”, sagte sie damals. Als wir jetzt beim SeitenWechsel-Gespräch zusammensitzen, gesteht sie, über eine Dreiviertelseite nicht hinausgekommen zu sein. “Das Leben funktioniert halt doch anders als der Kopf”, stellt sie lachend fest. Wer sie ohne Arbeit ist, hat sie dennoch herausgefunden. Auch, worauf es (ihr) im Alter wirklich ankommt.

Sie wollten nicht, dass wir über Sie reden. Aber vielleicht hilft es dem Leser doch, wenn wir kurz fragen: Wer ist Hildegard Hast?
Geboren in Arnsberg im Sauerland. Kindheit eher schwierig. Prägend war die erste große Liebe zu Old Shatterhand. Gerechtigkeitsfanatikerin - durch Pubertät mit viel Gefühl verbunden. Habe in Bonn und Freiburg Jura studiert, weil ich zum BKA wollte. Durch mein langjähriges Engagement in der ehrenamtlichen Straffälligenhilfe (meine Studentenbude glich zeitweise einer Anlaufstelle für entlassene Jugendliche) wurde mir bewusst, dass ich viel lieber praktisch mit Menschen arbeiten will. Nach dem Examen in Bonn – immer noch unschlüssig – war ich zunächst ein Jahr wissenschaftliche Assistentin eines Bundestagsabgeordneten. Danach Referendarzeit um Geld zu verdienen und um mir mit dem 2. Staatsexamen eine juristische Laufbahn offenzuhalten. Damals wäre ich gerne Nachfolgerin der Strafrechtsreformerin Dr. Helga Einsele im Frauengefängnis Preungesheim geworden. Als Berufseinsteigerin natürlich aussichtslos. Dann kam alles ganz anders. Auf einer dreimonatigen Tour durch die USA ließ ich Kopfmensch mich erstmals auf Meditation ein. Intuitiv hatte ich mir das Buch „Der Weg nach innen“ von Paul Brunton mitgenommen, und das hatte in der unendlichen Weite des Landes Auswirkungen. „Zufällig“ kam ich nach der Rückkehr mit der Atemtechnik Rebirthing in Berührung und fühlte erstmals in meinem Leben ganz genau: Da will ich hin! Nicht Jura, nicht Kriminologie. Mein Umfeld hat gesagt: „Jetzt bist du völlig durchgeknallt! Bist fertig, kannst Geld verdienen und schmeißt alles hin, um solche alternativen Sachen anzufangen?“

Doch Sie blieben dabei?
Ja! Um neben der Rebirthing-Ausbildung meine i.w.S. therapeutischen Ausbildungen auf festere Füße zu stellen, studierte ich verkürzt Sozialarbeit in Fulda und fuhr regelmäßig zum Ausbildungsinstitut für Gestalttherapie nach Frankfurt. Dann machte ich eine Schwangerschaftsvertretung beim SKF und arbeitete parallel in der eigenen Beratungspraxis. Diese Mischung war ein meditativer Lebensstil, wie ich ihn heute immer noch als ideal empfinde. Ich habe viel gearbeitet, aber immer mit Pausen dazwischen.

Wie wurden Sie Frauenbeauftragte?
1988 wurde die Stelle ausgeschrieben. Ich wurde angesprochen, dass das für mich als Juristin und Sozialarbeiterin doch etwas sei. Da sagte ich: „Niemals, ich lass mich doch nicht zwischen diesen Parteien zerreiben!“ Das war damals ja ein Politikum. Dann brachte die FDP eine ehrenamtliche Frauenbeauftragte ins Spiel. Zornig schrieb ich den ersten Leserinnenbrief meines Lebens und begann mich zu ärgern, dass ich mich nicht beworben hatte. 1989 wurde die Stelle erneut ausgeschrieben und ich dachte: „Dann soll es wohl so sein.“ Ab dem 1.1. 1990 war ich Kommunale Frauenbeauftragte.

Kam da ihr Gerechtigkeitssinn zum Tragen?
Es ging bei mir immer um die Benachteiligten. Zuerst mein Einsatz für die Knackis, die Resozialisierungschancen bekommen mussten. Solche Programme gab es ja noch nicht. Dann habe ich im Grunde die Gruppe der Personen ausgetauscht. Jetzt waren es benachteiligte Frauen. Verbindender roter Faden war die Suche nach Gerechtigkeit. Zuerst auf der Ebene des Rechts, dann mit Psychologie und am Ende auf spiritueller Ebene. Und für mich war spannend: Wenn ich in Rente gehe, was mache ich dann?

Und, was war es?
Es hat sich total geändert. Was auch immer wir planen: Es kommt es doch oft anders. Ich wollte mich z.B. endlich der Gartenarbeit widmen und stellte fest, dass ich gar keinen Bock mehr drauf hatte. Nähen war auch so ein Ding. Die schönen Stoffe mit Meeresmotiven warten heute noch. Auch wollte ich endlich die gefühlt 50 ungelesenen Bücher im Bücherschrank lesen. Was mache ich? Gehe in die Landesbibliothek, suche mir neue Themen. Und sitze nächtelang begeistert in Online-Kongressen, so wie ich früher aus Wissbegierde weite Strecken zu Kongressen gefahren bin. Ich will die Welt begreifen – und das ist bekanntlich uferlos. Man/frau nimmt sich immer mit. Das ist meine größte Erkenntnis beim Rentendasein.

Mit dem Schwerpunkt auf Frauenthemen?
Nicht mehr. Als Frauenbeauftragte fuhr ich mal euphorisch zu einem Vortrag über Spiritualität und Politik. Ich habe immer schon behauptet: Wir kriegen niemals 50 % Frauen in die Politik, wenn wir nicht die Spiritualität in die Politik kriegen. Frauen wollen nicht männlich werden, um dann in der Politik Männerpolitik zu machen. Die Referentin sagte leider kurzfristig ab, aber so lernte ich in diesem Kongress den Quantenphysiker Prof. Hans-Peter Dürr kennen. Ein Samenkorn, aus dem dann im Jahr darauf der Fuldaer ZukunftsSalon erwuchs. Heute ist das Spektrum von Spiritualität bis Quantenphysik meine persönliche „Heimat“. Wenn schon nicht Gerechtigkeit, dann wenigstens Verstehen.

Wenn man Hildegard Hast googelt, tauchen schnell zwei weitere Namen auf: Hildegard Knef und Hildegard von Bingen.
Hildegard Knef mag ich, Hildegard von Bingen auch. Aber ich habe es nicht so mit den Heiligen. Außer natürlich mit Antonius, meinem Freund, dem Patron der „Schlamperer“. Und ich liebe die Engel, insbesondere die humorvollen. Mit „Amtskirche“ hab ich immer so meine Probleme gehabt, mit meiner Sichtweise und Erfahrungswelt können aber auch viele andere nicht mitgehen.

Jetzt haben wir doch lange über Sie geredet ...
Ich rede zu viel. Ich kam mal von der Grundschule nach Hause und erzählte was über Reinkarnation. Da gab´s eine große Debatte am Mittagstisch und hinterher sagte meine Mutter: „Wenn Du mal tot gehst, muss man Deine Klappe extra tot schlagen!“ [Lacht]

Kommen wir zum Thema Alter. Kann man sagen, dass der alte Mensch im Idealfall in eine größere Nähe zu sich selbst kommt?
Ja. Es gibt kein Ausweichen mehr. Ich stand mal kurz vor einer Rückenversteifungs-OP, von drei Monaten Schmerzen zermürbt. 14 Tage vor dem Termin überzeugte mich ein Naturheilarzt, es nicht zu machen. Dafür u.a. tägliche Rückengymnastik „bis ans Lebensende“. Wenn ich morgens auf der Matte liege, wird mir bewusst, dass ich nicht ausweichen kann, dass u.a. Schmerz mich an die absolute Grenze bringen kann. Ich nenne es inzwischen meine täglichen „Endlichkeitsgedanken“.

Unser Blick auf das Alter ist stark von dem bestimmt, was alles schlechter wird. Offenbar gibt es auch Dinge, die leichter werden.
Ich muss immer lachen, wenn ich diese „Seniorenangebote“ sehe. Vieles ist ja in Ordnung, Hilfsangebote, lebenspraktische Unterstützungsangebote. Aber geistige Ansprüche sollte man nicht stellen. Wer da mehr will, gilt schnell als überheblich. Ich selbst habe das Bedürfnis, alles zu begreifen und mich mit allem zu beschäftigen. Gute Freunde und Gleichgesinnte um mich haben, sich gemeinsam weiterentwickeln, das ist toll – auch wegen unserer teilweise völlig unterschiedlichen Erfahrungsschätze und Sichtweisen. Geistige Einsamkeit im Alter – das ist ein Thema, das mich inzwischen sehr berührt.

Was schmerzt im Alter?
Manches piekt einen schon früher. Ich war z.B. mit 50 Jahren weiß. Das hat gepiekt. Auch mein Vater war mit Mitte 40 schon weiß. Andere Kinder haben mich immer gefragt: „Ist das dein Opa?“ Dafür habe mich komischerweise geschämt. Mit 50 war es dann bei mir endgültig soweit - schlohweiß. Da war ich aufgefordert, mich damit auseinanderzusetzen. Ich hätte ja auch färben können.

Haben Sie nie gemacht?
Doch, jugendliches „blond“, später blonde Strähnchen. Aber als ich weiß wurde, bin ich es bewusst geblieben. Meine Mutter hat sich mit über 80 noch die Haare gefärbt inklusive Dauerwelle. Sie gehörte zur Generation, wo Frauen bei anstehenden Festen sofort dachten, „Ach, da muss ich aber erst zum Friseur!“. Zu manchen Anlässen sind sie deshalb gar nicht hingegangen. Bei mir führte es zum Protest. Ich hatte nie Bock darauf, diese „Gefall-Dinger“ mitzumachen. Aber manchmal kommen auch Bemerkungen, die verletzen.

Und die muss man aushalten?
Ja, zuerst mal nur eingestehen: „Na, das macht dir doch was!“ Dann auch zu merken, dass man es aushalten kann. Im Alter merkst du, es gehört dazu. Es ist ein Abfinden mit dem Unausweichlichen. Abfinden müssen wir uns alle. Und wenn ich mich damit abfinde, komme ich aus der Machbarkeit, aus dem Größenwahn heraus. Dann ist es gut, Freunde zu haben. Dabei muss man auch lernen zu akzeptieren, dass verschiedene Menschen verschiedene Wege gehen. Der eine ist so, der andere so. Es ist ganz schwer, diese Basis hinzukriegen, wo wir mit dem Richtig-Falsch aufhören.

Wie wir alt werden, das entscheiden wir alle selbst und wir entscheiden es sehr früh. Wie beobachten Sie das?
Ich sage lieber: „Wir nehmen uns immer selbst mit“, weil es ja nicht so bewusst abläuft. Nach dem Resonanzprinzip treten wir immer mit dem, was wir sind, denken und fühlen in Kontakt zur Außenwelt. Und dort begegnet uns das Entsprechende bzw. nehmen wir es wahr. So entwickelt sich jeder in einer bestimmten Linie weiter. Wenn ich aber im ganzen Leben mit etwas in Resonanzgegangen bin, was ich im Alter nicht mehr haben kann, wird es schwer. Mich beschäftigt z.B. die Frage sehr, ob der Demenz- Anstieg etwas mit der Traumatisierung der Kriegsgeneration zu tun hat. Sie hatte keine Möglichkeit, ihre Traumata zu verarbeiten, vieles wurde verdrängt. Im Alter aber, wenn das Gehirn diese Abwehrmechanismen nicht mehr aufrecht halten kann, ploppen die weggeschobenen Sachen hoch. Was kann da ein Organismus anderes machen, als ganz zu cutten? Meine Mutter war hier im Altenheim. Jeden Abend schrie im oberen Stock eine demente Frau. Aber nicht im Sinne von „Mir tut was weh“, sondern mehr wie ein monotoner Urschrei. Damals kamen mir die ersten Bilder dazu: Da ist ein uralter Schmerz, der raus will, sich quasi selbständig macht. Das gilt aber auch für die ganzen Stufen dazwischen, in denen Menschen sich in ihrem Leben nicht auseinandersetzen wollten oder konnten.

Was meinen Sie mit „auseinandersetzen“?
Sich und die Welt zu hinterfragen, sich der eigenen Verletzlichkeit zu stellen, die schützenden „Zwiebelschalen“ bis auf den Kern abschälen usw. Welche Geschenke waren die enormen Entwicklungen in Psychologie und Therapie, von denen unsere Generation erstmals profitiert hat. Und das geht jetzt immer schneller. Ich habe noch das Ziel, mich immer mehr vom „Kopfwissen“ in die Herzensweisheit zu entwickeln – ein nicht einfacher Weg, der auch nie enden wird. Ich bewundere Menschen, die diese Herzensweisheit schon immer gelebt haben. Ich glaube, das sind auch die zufriedeneren Alten.

Fatal ist, dass oft nicht gesehen wird, dass das Altern eine seelische Aufgabe ist. Es gibt kaum entsprechende Hilfestellungen. Da sitzt ein alter Mann im Heim, der immer Jimmy Hendrix gehört hat, und man spielt ihm Blasmusik vor.
Jimmy Hendrix als Seniorenangebot… wow. Bei Jazzern kam auch noch niemand auf die Idee, daraus ein Seniorenangebot zu machen. Ja, es ist eigentlich eine andere Kultur nötig. Wie schaffen wir es, der Individualität und der Gemeinsamkeit gleichwertig Raum zu geben, anstatt die Bedürfnisse auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu reduzieren, nur um Auseinandersetzungen zu vermeiden. Ich erlebe die Generation der ca. 25 bis 45-Jährigen mit Freude. Die ticken oft schon ganz anders und leben das in ihren Familien auch. Ich glaube nicht, dass wir „Alten“ das können, auch nicht, indem wir Altenheime umorganisieren. Wir brauchen erst eine neue Kultur, in der Menschen anders leben und dann auch anders alt werden. Wir Alten schaffen es wohl nur über den Zusammenschluss mit Gleichgesinnten.

Wie kann das aussehen?
Indem man sich mit Gleichgesinnten zusammentut, gemeinsam in ein Haus o.ä. zieht und es ausprobiert. Vorbilder sind da. Aber das ist auch schwierig. Jeder hat seine Eigenheiten, und die wollen wir im Grunde alle nicht so gerne hergeben. Eine ähnliche Wellenlänge ist wohl Voraussetzung, dass wir uns gegenseitig unsere Eigenheiten wohlwollend zugestehen und bereit sind, es immer wieder auszutarieren mit der Gemeinschaft. Klar, dass das nicht einfach ist. Alleine leben ist nicht einfach, Beziehung leben und Familie leben auch nicht. Warum sollte es gebündelt einfacher sein?

Sie haben sich entschieden, weiter im eigenen Haus zu leben?
Wegen meiner Rückengeschichte habe ich mir zuerst gesagt: In diesem Häuschen kannst du nicht alt werden, ständig Treppen steigen, deinen Garten machen usw. Jetzt habe ich beschlossen, ich geh das Risiko ein. Es hält auch fit. Ich will hier alt werden, egal wie alt. Notfalls kipp´ ich um, dann müssen wir eben sehen. Aber nicht dieses: Ich muss vorsorgen für alle Eventualitäten. Ich bleibe aber offen für eine größere Gemeinschaft mit
Gleichgesinnten. Mal sehen.

Das Leben entscheidet ...
... das Leben oder eine höhere Ebene. Und ich glaube auch, dass ich dann einverstanden bin, da habe ich unbändiges Vertrauen.

Was füllt Ihr Leben nun aus?
Das bewusste Leben von Tag zu Tag. Ich wurde viel gefragt, hier oder da mitzumachen. Ich wollte aber nur noch etwas machen, was für mich eine persönliche Herausforderung ist. So bin ich bei den Maltesern in der Sterbebegleitung im ehrenamtlichen Hospizdienst gelandet. Nach einjähriger Ausbildung habe ich dieses Jahr mit der Praxis begonnen.
Persönlich alles, was authentisch ist, das bewusste Wahrnehmen unserer Welt mit allen Facetten und Entwicklungssprüngen. Ganz unterschiedliche menschliche Beziehungen. Ich bin leidenschaftliche Kartenspielerin und liebe tiefgründige Gespräche, in kleinen Gruppen oder zu zweit. Gerne „Geh-spräche“ rund um den Rauschenberg oder in der Rhön. Ich kann nur spielen oder tiefgründig – Small Talk konnte ich noch nie.

Wenn über Ihr Leben ein Buch geschrieben würde, wie sollte der Titel lauten?
Es ist ein Satz, den ich auf die Einladung zu meinem 60.Geburtstag geschrieben habe: „Meer, Du berührst meine Seele“. Das steckt Weite drin, Sehnsucht nach dem großen Ganzen.

Das Gespräch führten
Hanno Henkel und Arnulf Müller

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