„Wir sind zum Laufen geboren“

Sie sind 24 und laufen die 42. Ihr Beruf ist es, den eigenen Körper von A nach B zu katapultieren. Weil Anna und Lisa Hahner immer öfter das Zielband vor den anderen zu fassen bekommen, stehen sie im Fokus der Leichtathletik-Welt. 

Das große Ziel der lebensfrohen Zwillinge aus dem Hünfelder Land sind die Olympischen Spiele 2016. Doch der Weg von Rimmels nach Rio ist kein leichter. Im Interview wirken die Marathon-Heldinnen offen und entspannt, doch hinter ihren Erfolgen steckt eiserne Disziplin und manche Qual. Wie fühlt sich das von innen an, so ein Leben an der Nahtstelle von Sieg und Niederlage? Was treibt die beiden?

SW: Ihr seid mit 18 Jahren relativ spät zum Laufen gekommen, angeregt durch einen Vortrag des Extremsportlers Joey Kelly. Dann kamen schnell Erfolge. Es muss also etwas in euch gewesen sein.

Anna: Was ins uns geschlummert hat, war dieses gegenseitige Sich-Anspornen. Wir waren immer ehrgeizig. Im Fernsehen sahen wir mal, wie sich welche, wie auf einer Bank sitzend, gegen die Wand gelehnt haben, aber eben ohne Stuhl. Das geht enorm auf die Oberschenkel. Am nächsten Tag haben wir gleich einen Wettkampf veranstaltet, bis der Mathelehrer gesagt hat: „Jetzt ist die Pause aber vorbei!“ Spielerisch Wettkämpfe zu bestreiten, das war immer da. Als wir den Marathon entdeckt haben, sind wir gleich komplett drin aufgegangen. Das ist eine Leidenschaft, da nimmt man gerne das Leiden in Kauf.

Lisa: Am Marathon interessiert uns speziell, dass alles auf einen Tag X ausgerichtet ist. Man bereitet sich ein halbes Jahr auf diesen Tag vor, und dann muss alles zusammenpassen. Wenn alle Rädchen ineinandergreifen, kommt ein super Ergebnis.

SW: Wie läuft die Vorbereitung ab? 

Lisa: Das ist komplexer, als man denkt. Nicht nur laufen. Wir machen sehr viel im mentalen Bereich. Bei 42 Kilometern hat man enorm lange Zeit zu denken. Das Ziel ist, stets fokussiert zu sein.

SW: Und was ist der Trick?

Anna: Wir teilen den Marathon in 7 Abschnitte ein. Zu jedem haben wir einen Song. Wir dürfen ja keinen MP3-Player im Ohr haben, aber das Lied ist im Kopf. Manchmal schwirrt nur eine Zeile herum. Damit verbindet man schöne Sachen. Nach Kilometer 6 kommt das nächste Lied.

Lisa: 42 Kilometer sind eine ewig lange Distanz. Wenn man nach zwei Kilometern denkt: „Jetzt sind es noch 40!“, dann ist das schlecht. Wenn man abschnittsweise vorgeht, dann fühlt man nicht, wie lang es in Wirklichkeit ist.

SW: Anna, du hast gerade den Wien-Marathon gewonnen – Glückwunsch!! Wie dosiert man das eigentlich als Profi, dass man nach genau 42 km auch wirklich alles gegeben hat?

Anna: Zusammen mit dem Trainer legen wir vorher die Geschwindigkeit fest. Ich habe meine Pacemaker, die Tempomacher. Die laufen im exakten Tempo vor mir her und nehmen mir den Wind. Wenn ich mich gut fühle, sage ich „Jetzt ein, zwei Sekunden schneller pro Kilometer“, oder umgekehrt. Das sind Nuancen. Bei Kilometer 10 ist es schon sehr anstrengend. Wichtig ist, dass man auch nach 20 noch im Rhythmus ist. Wenn alles ideal läuft, so wie in Wien, hat man hinten raus noch Körner und kann z.B. die Kenianerin, die vor mir auftauchte, übersprinten. Für sie war´s ärgerlich: Sie hatte es sich so eingeteilt, dass der Marathon nach 41,9 km zu Ende ist – dann wäre sie die Siegerin gewesen.

SW: Hat das ein bisschen mit „Zocken“ zu tun?

Anna: Das Risiko, das man vorher eingeht, kann man hinten doppelt und dreifach büßen. Bis Kilometer 35 läuft es eigentlich immer.

Lisa: Wir haben ein Sprichwort: „Hinten ist die Ente fett!“

Anna: Wegen dieser letzten Kilometer braucht man einen erfahrenen Trainer. Das ist der entscheidende Teil im Marathon.

SW: Könnt ihr euch noch an den ersten Lauf erinnern?

Anna: Oh, heute ist der 13. Mai, heute ist Jubiläum! Heute vor 7 Jahren war der Rhön-Super-Cup in Fulda. Das hatten wir morgens in der Zeitung gelesen. Unsere Mutter hatte Geburtstag, so wie heute. Da haben wir gefragt: „Mama, können wir da mitmachen?“ Mutter: „Um wie viel Uhr ist das denn?“ Und wir: „Zum Kaffee sind wir wieder zurück.“ Dann sind wir hin.

SW: Hattet ihr gleich Erfolg?

Lisa: Wir haben kurz nach dem Zieleinlauf noch etwas getrunken und sind sofort zurück zum Auto. Am Nachmittag hat uns jemand aus dem Nachbarort die Medaillen vorbeigebracht – wir hatten die Altersklasse gewonnen. Da haben wir erst realisiert, dass wir gar nicht so langsam waren.

SW: Gibt es Momente, wo man aufhören will?

Anna: Es ist wichtig, sein Ziel klar vor Augen zu haben. Ansonsten sieht beim Marathon irgendwann jede Bordsteinkante verführerisch aus und man denkt: „Wie schön das wäre, sich da jetzt draufzusetzen!“

SW: Was sind eure Ziele für die Zukunft?

Lisa: Schneller zu werden.
Anna: Ja, denn das große Ziel sind die Olympischen Spiele in Rio 2016, wo wir gemeinsam für Deutschland starten wollen. Wir haben längst noch nicht unsere Grenzen erreicht. Da soll’s noch einige Minuten schneller gehen.

SW: Was bedeutet es euch, für Deutschland laufen zu dürfen?

Lisa: Für sein Land zu laufen, ist das Größte. Rio ist das Ziel, wofür wir jeden Tag die Laufschuhe schnüren.

SW: Welche Zeit muss man für die Qualifikation laufen?

Lisa: Bis 2012 lag die Norm bei 2:30. 2016 ist es vielleicht schon 2:29. Das wird im nächsten Jahr bekannt gegeben. Und dann werden wir diese Zeit auch laufen.

SW: Noch mal zur Zwillingssituation: Wie tariert ihr das aus: den anderen besiegen zu wollen und gleichzeitig mit ihm befreundet zu bleiben?

Lisa: Es ist ein großer Vorteil, dass wir in einer großen Familie mit Geschwistern aufgewachsen sind. Jeder wollte der Beste sein, und trotzdem war es ein Miteinander. Man gönnt es dem anderen.

Anna: Auch beim Tischtennis haben wir das gelernt: Vor dem Spiel geht man hin, wünscht sich ein gutes Spiel. Dann schenkt man dem Gegner keinen Ball, und nach dem Spiel geht man hin und sagt: Gut gespielt! Wir wurden von unseren Eltern dazu erzogen, dass kein Neid aufkommt.

SW: Gab es schon Verwechslungen bei Marathonläufen?

Lisa: Ja, es kam vor, dass ich mit „Anna“ angefeuert wurde, aber dann freue ich mich auch und laufe weiter. Mir wurde jetzt auch öfter für Wien gratuliert. Das nehme ich gerne an und gebe esan Anna weiter. Wir sind das gewohnt, auch von der Schule her.

SW: Wie wichtig ist euch die Publicity?

Anna: Nach dem Wien-Marathon hat mir jemand geschrieben, dass er wegen mir mittags für sich alleine einen Halbmarathon gelaufen ist. Seine Frau hat ihn für verrückt erklärt, aber er musste das tun. Wenn man merkt, dass man durch das eigene Laufen andere Leute zur Bewegung motivieren kann, das ist genial.

Lisa: Genau das wollte ich auch sagen.

SW: Lisa, was hat Anna, was du nicht hast?

Lisa: [Überlegt lange.] Den Wien-Marathon-Sieg [lacht].

SW: Und von der Anlage her?

Lisa: Was ich nicht habe, ist schwer zu sagen. Anders ist z.B. der Körperbau: Ich bin ein Stückgrößer. Ein Rhöner Laufkollege konnte uns zuerstam Laufstil auseinanderhalten. Anna ist schon bessere Zeiten gelaufen. Ich will das auch erreichen, will unter 2:28 laufen. Das treibt mich an.

SW: Und umgekehrt?

Anna: Lisa ist ein bisschen analytischer. Sie hat Mathematik studiert, schaltet immer erst den Kopf ein. Ich mache erst und renne mir die Nase ein. Ich bin etwas impulsiver, was wahrscheinlich Vor- und Nachteile hat. Aber wir ergänzen uns gut. Ich lasse sie im Training den Kilometerschnitt ausrechnen, wie viel Prozent wir schon erreicht haben ...

Lisa: ... weil sie zu faul ist, das könnte sie auch!

SW: Du hast Mathematik studiert?

Lisa: Ich habe in Mathe und Französisch den Bachelor gemacht.

SW: Anna, hast Du auch einen Plan B?

Anna: Wir haben gemeinsam in Mainz auf Lehramt studiert. Ich habe den Bachelor in Französisch und katholische Theologie gemacht.

SW: Klar, wenn man gegenüber der Kirche groß wird.

Anna: [lacht] ... ja, und so nah an Fulda!

SW: Wie ist das, wenn man zwei Minuten langsamer war als erhofft, nur Siebter ist statt Zweiter?

Lisa: Es bringt einen weiter. Am Anfang kommt es einem wie eine Niederlage vor. Aber man verarbeitet das. Auch die Verletzung in Hannover war irgendwie eine Niederlage. Man trainiert vier Monate, und am Tag X hat es nicht gepasst. Da darf man sich nicht unter Druck setzen. Man versucht, wieder zu hundert Prozent fit zu werden und plant erst dann den nächsten Wettkampf.

Anna: Wir versuchen, Niederlagen als Herausforderungen zu sehen. Wir haben so ein Mantra: „Alles ist für irgendetwas gut.“ Manchmal sieht man nicht im Moment wozu, aber mittel- oder langfristig erkennt man, dass man so auf einen Weg gebracht wurde.

SW: Warum quält man sich eigentlich freiwillig beim Sportmachen?

Anna: Ich glaube wegen des Gefühls danach. Egal, wie groß die Schmerzen vorher waren: Wenn man das Zielband in der Hand hat, bekommt man einen solchen Energieschub! Vorher dachte man, gleich geht´s keinen Schritt mehr, aber in Wien hab ich noch einen kleinen Walzer getanzt. Was die Glückshormone nicht alles mit einem anstellen können!

SW: Tränen gehören aber auch dazu, oder?

Lisa: Ja, Tränen der Freude, aber auch der Enttäuschung. Nur weil es diese Ups and Downs gibt, ist es so schön. Wichtig ist, dass die Gesamttendenzb nach oben zeigt. Aber die Leistungskurve verläuft nicht linear, sondern wellenartig. Als Mensch gewöhnt man sich schnell an das, was man erreicht hat. Erst wenn Probleme kommen, lernt man z.B. wieder zu schätzen, schmerzfrei zu sein, und was das eigentlich alles für ein Glück ist.

SW: Wir beschäftigen uns im SeitenWechsel viel mit Menschen, die damit zu kämpfen haben, dass im Leben alles so schnell gehen muss und nur die Schnellsten Applaus bekommen. Wie seht ihr das?

Lisa: Ich glaube, es geht darum, seine eigenen Grenzen zu entdecken und zu versuchen, diese zu verschieben. Für uns heißt das, dass wir uns nicht davon entmutigen lassen, dass es derzeit eine große Anzahl von Afrikanerinnen gibt, die schneller sind als wir. Es geht darum, trotzdem an sich zu glauben und seine persönlichen Ziele im Auge zu behalten.

Anna: Erfolg ist nicht nur an Zeiten und an der absoluten Leistung festzumachen. Wenn sich jemand überwindet, der noch nie länger als einen Kilometer gelaufen ist, und nun fünf Kilometer läuft, ist der Erfolg nicht weniger wert, als wenn wir einen Marathon laufen. Wir laufen täglich, und unser Körper hat sich daran gewöhnt. Persönliche Ziele kann man nicht miteinander vergleichen. Jeder, der etwas schafft, von dem er glaubt hat, es sei unmöglich, hat etwas Großes erreicht.

SW: Habt ihr schon einmal etwas von Inklusion gehört?

Anna: Beim Hannover-Marathon haben wir jemanden mit einer geistigen Behinderung kennengelernt, der sich auch persönliche Ziele gesetzt hat und die 42 km durchgelaufen ist. Mit einer Begleitung. Das war mega-faszinierend.

SW: Ihr versteht „Leistung“ also individuell, messt euch selbst aber mit der Weltspitze.

Lisa: Klar, jeder soll die Leistung bringen, die seinen Zielen entspricht. Für uns ist es ja nicht nur die Leidenschaft, sondern auch Beruf. Klar, dass unsere Ziele andere sind als bei jemandem, der 40 Stunden die Woche arbeiten geht und Familie hat. Der muss Kompromisse eingehen. Jeder hat auch andere Voraussetzungen, gerade im körperlichen Bereich. Wir haben eben eine Läufer-Statur. Wir sind irgendwie fürs Laufen geboren. Jeder muss halt das Beste aus sich herausholen.

SW: Opfert man auch etwas, z. B den Aufbau einer eigenen Familie? Wäre eine Schwangerschaft mit 28 für euch eine Katastrophe?

Lisa: Als Läuferin denkt man sozusagen in Olympiazyklen. Es tut dem Körper manchmal gut, wenn er eine Pause bekommt. Paula Radcliffe hat zwei Kinder bekommen und kam jedes Mal danach stärker zurück. Wir wollen nicht erst die Laufkarriere abschließen und dann eine Familie gründen. Wenn man überzeugt ist, dass das parallel verlaufen kann, gibt es auch Lösungen.

Anna: Manchmal sagen die Leute: „Opfert ihr nicht eure Jugend dadurch, dass ihr so diszipliniert seid? Weil ihr nicht jede Woche irgendwo mitfeiert?“ Wenn man permanent das Gefühl hat, etwas opfern zu müssen, kann man nicht das Beste aus sich herausholen. Uns macht das, was wir machen, riesigen Spaß, und nach einem erfolgreichen Wettkampf wird auch gefeiert. Aber sonst brauchen wir das nicht.

SW: Wird gleich bei Mutterns Geburtstagsfeier der Kuchen stehen gelassen?

Anna: Das ist der große Vorteil bei uns: Langstreckenläuferinnen haben einen so hohen Energiebedarf, dass wir beim Essen nicht auf die Menge achten müssen. Wir ernähren uns zu neunzig Prozent gesund, und 10% darf’s dann Kuchen und Schokolade sein. Dafür sind wir bekannt in der Verwandtschaft. Wenn die Hahnerzwillinge mitkommen, gibt´s immer einen Kuchen extra.

SW: Was hat sich in Rimmels geändert, seit ihr den Namen bundesweit bekannt gemacht habt?

Anna: Es gucken jetzt mehr Leute Leichtathletikveranstaltungen. Es ist extrem cool, wenn man hört, dass eine 85-Jährige den Marathon schaut, obwohl sie sich nie für Sport interessiert hat.

Lisa: Normalerweise stehen alle am Sonntag nach der Kirche auf dem Kirchplatz zusammen. Aber wenn Marathon ist, löst sich das schnell auf, weil jeder den Zieleinlauf schauen will. Wirklich cool, dass alle hier mitfiebern.

SW: Solange sie nicht früher aus der Kirche gehen ...

Anna: ...und solange nicht der Pfarrer die Halbmarathondurchgangszeit während der Predigt bekannt gibt [lacht].

SW: Wo ist euer Lebensmittelpunkt? 

Wir wohnen jetzt im Schwarzwald in Gengenbach. Das ist der wärmste Ort Deutschlands mit dem wenigsten Schnee: gut zum Laufen und Rennradfahren. Der Vorteil von Rimmels ist, dass es im Herzen von Deutschland liegt. Wenn wir nach Berlin oder Hamburg müssen, kommen wir immer für ein paar Tage bei unseren Eltern vorbei.

SW: Wie wichtig ist es euch, eine Heimat zu haben?

Anna: Ich lerne gerne neue Städte und Kulturen kennen. Aber man kann das nur wertschätzen, wenn man immer wieder zurückkommen kann zum Gewohnten und Gefestigten. Da wird man bedingungslos akzeptiert und geliebt, egal, wie schnell man läuft und was man leistet. Die Leute kennen uns ja schon von klein auf.

Lisa: Und samstags hier, wenn das ganze Haus nach frisch gebackenem Hefekuchen von der Oma riecht, also das ist ...

Anna: ... ja, das ist Heimat.

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