"Wir sollten die Komfortzone verlassen"

Ihr großes Thema ist das Vertrauen. Das liegt auf der Hand, wenn man blind ist und zudem Leistungssport betrieben hat.

Von blindem Vertrauen hingegen hält Verena Bentele nichts. Vertrauen müsse man „trainieren“, sagt sie und denkt dabei auch stark an das Selbstvertrauen. Mit nur 31 Jahren wurde sie im Januar zur Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen bestellt. Es ist das erste Mal, dass ein Mensch, der selbst eine Behinderung hat, dieses Amt ausübt. Und das ist gut so. Mit ihrem couragierten Wesen und ihrer großen Motivation steht die sympathische Frau für eine neue, selbstbewusste Generation von Menschen, die das Leben offensiv angehen möchten und selbstbestimmt agieren wollen – jenseits des alten Bildes vom „armen Behinderten“. Am Rande der Phineo-Preisverleihung in Berlin hat Redaktionsmitglied Rainer Sippel die Gelegenheit genutzt und sie für den SeitenWechsel interviewt:

Rainer Sippel: Haben Sie neben Ihren politischen Zielen im engeren Sinn auch eine direkte Botschaft an Menschen, die eine Behinderung haben? Vielleicht gerade ausgehend von Ihren persönlichen Erfahrungen?

Verena Bentele: Die Botschaft, die ich weitergeben kann und möchte, ist, dass jede und jeder von uns das machen sollte, was er oder sie wirklich gut kann und gerne macht. Davon sollte sich niemand abbringen lassen. Das ist für mich ein ganz wichtiger Aspekt von Inklusion. Jeder sollte selbst über Wohnort, Arbeitsort oder Freizeitaktivitäten entscheiden können. Dazu kann ich alle nur ermutigen und auch dazu, sich dafür die nötige Unterstützung zu holen.

RS: Sie sagten mal in einem Interview, man solle die „Komfortzone“ verlassen. Es gibt ja heute sehr ausdifferenzierte Wohnheime und Werkstätten. Was kann da getan werden, um die Komfortzone zu verlassen?

VB: Wir gestalten ein neues Bundesteilhabegesetz, damit jeder Mensch in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens mit einer noch besseren Wahlfreiheit teilnehmen kann. Das heißt dann auch, den Schritt zu wagen und aus einer Einrichtung rausgehen zu können: eine reguläre Arbeitsstelle zu suchen, außerhalb der Einrichtung eine Wohnung zu nehmen oder in den Sportverein um die Ecke zu gehen. Also wirklich etwas ganz Neues ausprobieren. Das bedeutet für Menschen mit einer Behinderung, „die Komfortzone zu verlassen“ – denn man weiß nie, was dann kommt.Natürlich macht das auch mal ein bisschen Angst, aber nur so hat man die große Chance, tolle, neue Dinge zu erleben, sich noch mal neu auszuprobieren und vor allem seine Fähigkeiten besser kennenzulernen. Wichtig ist mir aber immer, dass jeder und jede zu jedem Zeitpunkt frei entscheiden kann.

RS: Sie sind im Leistungssport mit einer Sehbehinderung sehr erfolgreich gewesen, haben viele Medaillen gewonnen, 25, um es genau zu sagen. Was war Ihnen wichtiger: sich mit anderen zu messen oder das Messen mit sich selbst?

VB: Das war beides wichtig. Es ist im Sport immer das Erste, die eigenen Grenzen zu erweitern, zu trainieren und besser zu werden. Das Zweite ist natürlich, dass es mir auch Spaß gemacht hat, im Wettkampf gegen andere zu starten. Heute genügt es mir aber, meine eigenen Ziele im Auge zu behalten. Wenn ich bei Läufen oder Fahrradrennen an den Start gehe, starte ich nie gegen andere. Im Sport ist es letztlich egal, ob man im Wettkampf gegen andere startet oder Spaß hat am Sport und wie die Klettergruppe sich im Klettern verbessert. Ich kann daher allen nur Mut zusprechen, sich wirklich zu engagieren, sei es im Sport, in der Musik oder in der Kunst – in allem eben, was einem Spaß macht.

RS: Inklusion will ja die Förderschulen abschaffen. Wir haben uns da für einen anderen Weg entschieden, indem wir unsere Schule auch für Menschen ohne Lernschwierigkeiten öffnen. Was halten Sie von diesem Weg, die Qualität einer speziellen Förderung zu erhalten, zugleich aber ein gemeinsames Lernen von Menschen mit und ohne Behinderung zu ermöglichen?

VB: Ich finde alle Wege gut, die zur Inklusion beitragen. Und dieser Weg des gemeinsamen Lernens wird ja auch bei Ihnen gegangen: Die Lehrer stellen ihre Kompetenzen auch Kindern ohne Behinderung zur Verfügung – genau das ist ja Inklusion. An welcher Schule das stattfindet, ist nicht der wichtigste Punkt, sondern dass Berührungsängste abgebaut werden. Schon bei den ganz kleinen Kindern ist es klasse, wenn sie so aufwachsen.

RS: Eine letzte Frage: Sie sind ja auf einem Bio-Bauernhof aufgewachsen. Hat Sie das geprägt und spielt das noch heute eine Rolle für Sie?

VB: Ich bin eine total überzeugte Bio-Esserin und Botschafterin für Bioprodukte, weil ich glaube, dass die Menschen – auch das ist eine Form von Inklusion – mit ihrer Umwelt gut umgehen müssen, damit sie auch Dinge zurückgibt. Es ist für mich immer schön, wenn konkrete Projekte verschiedene Dinge verbinden, also Umweltschutz und das Bewusstsein für biologisches Essen einerseits mit dem inklusiven Gedanken für Menschen mit und ohne Behinderung andererseits. Das gehört zu meinem Verständnis von moderner Arbeit, dass durch sie auch unterschiedliche Bereiche verbunden werden. Aber auch persönlich spielt meine Herkunft eine große Rolle für mich. Ich hatte bei meinen Eltern viele Möglichkeiten, konnte mich auf dem Hof immer frei bewegen, konnte Fahrradfahren und Reiten lernen.

RS: Herzlichen Dank für das schöne Gespräch, Frau Bentele.

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