Wo Augen und Farben um die Wette leuchten
Ein kühler, nasser Donnerstagvormittag. Alles grau in grau. In der Marktstraße in Tann pfeift der Wind so stark, dass ich meinen Schal fester schnüre und den Kragen hochstelle. Im Erdgeschoss von Haus Nummer 12 brennt Licht.
Ich schaue durch das Fenster der Begegnungsstätte „Kunst & Café“ und trete ein. Adieu Tristesse!
Herrlich farbige Bilder strahlen mich an. Ebenso die Gesichter von Dieter Baschek, Winfried Traumüller, Willibald Barwig und Paul Decker. Als ich die vier Kreativen sieze und frage, ob ich ihnen beim Malen und Zeichnen ein wenig zuschauen kann, fangen sie an zu lachen. Klar! Aber gesiezt wird hier nicht. Hier heißt es „du“!
„Babuschka! Babuschka!“, ruft Paul aufgeregt. Er zeigt auf den leeren Stuhl neben ihm. Es ist Christas Platz, aber Christa kann heute nicht. Paul nennt sie immer „Babuschka“. Er spricht nur russisch. Aber gesprochen wird jetzt ohnehin nicht viel. Es wird gemalt. Der kleine, ältere Mann greift zu einem Buntstift, um ein angefangenes Bild zu vollenden: ein Haus mit Garten, Bäumen und Blumen. Himmel blau, Sonne lacht. In den Garten zeichnet Paul einen Mann hinein. Er zeigt auf ihn und sagt: „Paul.“ Er strahlt. Aus dem Schrank kramt er andere Blätter hervor. Sie variieren immer das gleiche Motiv. Auf seinen alten Zeichnungen sind die Gegenstände nur konturiert. Seit kurzem hat Paul begonnen, sie auszumalen. Das bringt Haus, Garten, Blumen und Himmel zum Leuchten – so wie die Augen von Paul, der sein aktuelles Bild liebevoll an sich drückt.
Dieter malt abstrakt. Mit Acryl-Farben. Einen Pappteller nutzt er als Palette. Darauf hat ihm der Künstler und Kunsttherapeut Bernd Baldus aus unterschiedlichen Tuben Farben gepresst. Sie trägt Dieter mit dem Pinsel auf das Papier auf: dunkles Blau, Schwarz, darüber Gelb und Grün. An eine Stelle setzt er ein leuchtendes Rot. Intuitiv schafft er Farbflächen mit intensiven Kontrasten. Dabei sagt Dieter nichts, er arbeitet sehr konzentriert. Hin und wieder greift er zur Tasse, trinkt einen Schluck Kaffee.
„Kaffee!“, freut sich auch Willibald, der das sieht. Willibald stürzt sich nicht sofort in die Arbeit. Er beobachtet das Werkeln der anderen. Doch schließlich nimmt er die Aquarellkreiden zur Hand. Mit schnellen Bewegungen schraffiert er Rot, Blau, Gelb, Grün, Braun in Streifen übereinander auf das Papier, dann nochmals Rot und Blau. Jetzt schaut er wieder, was die anderen so machen. Manchmal dreht er sich um, beobachtet den Verkehr auf der Markstraße. „Bus!“, sagt er. Große Fahrzeuge beeindrucken ihn. Dann wendet er sich wieder seinem Bild zu, benetzt den Pinsel vorsichtig mit Wasser und vollzieht schnelle Bewegungen auf dem Papier. Die Farben fließen sanft ineinander zu einem Aquarell, das in Herbsttönen leuchtet.
Winfried lässt sich von nichts ablenken. Er drückt aus Tuben Acrylfarbe auf die 70 mal 100 Zentimeter große Leinwand. Rot, Grün und Weiß verteilt er mit der quietschenden Farbwalze, drückt aus der nächsten Tube Gelb und fährt erneut mit der Walze darüber. Wieder quietscht es. So geht das eine Weile. Ein kritischer Blick, dann fragt er: „Baldus, kann mir so lasse?“ Obwohl der Kunsttherapeut nickt, setzt Winfried noch einen Klecks Blau mit dem Pinsel, fährt nochmals mit der Rolle über die Leinwand. Jetzt ist alles perfekt. Oder doch nicht? Der Rahmen muss noch gestaltet werden. Da ist Winfried eigen. Akribisch bemalt er eine Seite nach der anderen in unterschiedlichen Tönen. Ob er nur großformatige Bilder malt, frage ich. „Ne, kleine Leinwand mach ich auch gern.“ Er zeigt auf zahlreiche kleinere quadratische Bilder im Atelier. „Schön gemalt, hier jede so Farbe, kann mir so lasse, gelle?!“ Und ob!
Bernd Baldus stellt Winfrieds großes Bild zum Trocknen auf die Staffelei, wischt mit dem Schwamm die Farbreste von der Tischplatte. Dann greift er in die Saiten seiner Gitarre. Paul legt die Buntstifte zur Seite, stampft mit den Füßen den Takt. Baldus mag’s locker. Er weiß: „Wenn Leute frei gestalten, kommen die besten Bilder raus – ganz von innen, ganz authentisch, so wie Kunst sein sollte.“ Ein Blick auf die heute entstandenen Arbeiten gibt ihm recht. Mit viel Einfühlungsvermögen bringt er die Teilnehmer seiner künstlerischen Angebote in der Tanner Diakonie dazu, ihre Talente zu entfalten. Und die haben sie! Ausgewählte Arbeiten präsentiert er selbstbewusst in Ausstellungen – unter anderem im Rahmen der Reihe „Gestatten, Kultur!“
Dieter ist mittlerweile fertig. Auf meine Frage, ob er ein zweites Bild malen will, sagt er entschieden: „Eins! Reicht!“ – „Eins! Reicht!“, wiederholt Willibald. Er und die anderen lachen. „Eins! Reicht! Nur eins – immer!“, sagt Dieter. Er malt immer nur ein Bild.
Ganz im Gegensatz zu Winfried. Der hat sich schon die nächste leere Leinwand gegriffen.
„Kaffee kalt!“, sagt Willibald. Der Blick auf die Uhr zeigt: kurz nach halb zwölf. Ohnehin Zeit, langsam zum Schluss zu kommen. Jetzt heißt es: Hände waschen. Winfried zögert noch. Sein Tatendrang ist ungebrochen. Aber dann macht auch er sich bereit zum Aufbruch. Er wird an seinem Bild nächsten Donnerstag weiterarbeiten.
In der Begegnungsstätte „Kunst & Café“ in der Marktstraße 12 gehen die Lichter aus. Aber der Besuch und die Bilder wirken nach..
Klaus H. Orth