Zehn Jahre „Seitensprung“ – Making of SeitenWechsel
Ein Seitenwechsel kann einen überallhin führen: Mich hat er in den vergangenen zehn Jahren ins Gefängnis gebracht, ins Bordell, ins Tattoo-Studio und ins Kloster. Ins ferne Japan und zu meinen Nachbarn. Zu einer Bestatterin und einem Boxweltmeister. Jeder Seitenwechsel hat meinen Blickwinkel ein bisschen geweitet. Jetzt möchte ich Sie mitnehmen, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen.
Zehn Jahre als freie Reporterin für das Seiten- Wechsel-Magazin: Das bedeutete viele Begegnungen, viele Antworten und – manchmal – noch mehr offene Fragen. Das bedeutete, sich in ganz andere Welten hineinzutrauen. Die Perspektive zu wechseln – ohne zu urteilen. „Ich habe einen Paartherapeuten interviewt und eine Prostituierte“, erzählte ich einst einer Freundin. „Und als Nächstes einen Pfarrer.“ „Kein Wunder“, entgegnete sie trocken, „du arbeitest ja auch für den SeitenSprung.“ Natürlich war das ein Versehen. Inzwischen kennen viele Menschen den SeitenWechsel und ich wurde oft auf Reportagen angesprochen. Welcher Text viele Leser zu interessieren schien, war die Reportage über käufliche Liebe. Dafür zog ich nachts alleine los, um in den Bordellen Interview- partnerinnen zu finden. Ich hielt es für besser, unangemeldet aufzutauchen – und das erwies sich als die beste Strategie. Allein im Dunkeln an entlegene Türen zu klopfen, war seltsam – und überraschend ernüchternd.
Trotzdem wollten viele der Frauen nicht mit mir sprechen. Schon gar nicht über die Liebe. Die sollte das Hauptthema des Heftes werden und es interessierte mich, was Frauen über die Liebe denken, die ihren Körper für Geld verkaufen. Die Antworten waren nicht nur ernüchternd, sie waren so unglücklich, dass mich die Interviews noch monatelang beschäftigten. Was mich am meisten ärgerte, war die – zumeist männliche – Annahme, die Frauen würden dies freiwillig tun. Das taten sie nicht. „Das hier sind alles gebrochene Menschen“, sagte mir derjenige, der jeden Tag mit ihnen zusammenarbeitete. Denn hinter dem Glitzer und Flitter taten sich Abgründe auf, mit denen die meisten Menschen gar nicht fertig werden würden. Diese Frauen waren stark und stolz und versuchten so sehr, das Beste aus einem harten Leben zu machen, dass es einem das Herz brach. Trotzdem machte die Arbeit an dieser Reportage auch Spaß: Ich verbrachte einen sehr lustigen Abend mit einer Gruppe hinreißend aussehender Ladys, die mir bereitwillig von ihrem Leben erzählten.
Anna-Pia Kerber
Hat immer mit vollem Einsatz die Seiten gewechselt
Überhaupt ist mir in all den Jahren viel Vertrauen entgegengebracht worden. Ein Vertrauen, das ich sehr hoch schätze und niemals missbraucht habe. Wenn aus einem Interview ein Kaffeetrinken wird, wenn aus einer bald zwei, drei oder mehr Stunden werden, bekommt man eine Menge erzählt. Lebensgeschichten, Geheimnisse, Ängste. Am Ende saßen Menschen oft – verblüfft über ihre eigene Offenheit – vor mir und sagten: „Das schreiben Sie jetzt aber nicht in den Artikel.“ Und das habe ich nicht. Auch nicht, wenn die Dinge, die die Menschen verborgen halten wollten, für die Geschichte und das Verständnis des Lesers besonders wichtig gewesen wären und die interessantesten Dinge nicht selten hinter den Kulissen geschahen.
Manchmal war es umgekehrt, und man musste sehr genau aufpassen, was von dem Erzählten man glauben durfte. Im SeitenWechsel 1/2018 ging es um das Thema Langeweile, was mich auf die Idee brachte, zwei Häftlinge zu interviewen. Geführt wurde das Gespräch unter Aufsicht, in einem Büro im Herzen des Gefängnisses. Um mich anzumelden, musste ich selbst eine Menge offenbaren – und die Erfahrung machen, dass ich komplett durchleuchtet wurde, bevor ich auch nur einen Fuß in das Gefängnis setzen konnte. Man hatte sich im Vorfeld sehr gründlich über mich erkundigt – und ohne es zu wissen, befand ich mich plötzlich in der Rolle der Interviewten und in einer peinlichen Befragung. „Sie sind so taff aufgetreten, da dachten wir, wir könnten uns das erlauben“, hieß es dazu später.
Die Häftlinge selbst behandelten mich sehr höflich und zuvorkommend. Sie führten vor der Haft ein Leben wie in einem Thriller, inklusive Verfolgungsjagden und der Tatsache, dass einem auf der Flucht vor der Polizei die große Liebe über den Weg lief. Die große Liebe ist übrigens geblieben. Und Jahre später erhielt ich das Angebot, seine Lebensgeschichte in einen Roman zu fassen – der Häftling wurde inzwischen entlassen.
Die Arbeit als Journalist kann auch sehr schmerzhaft sein. Mit vollem körperlichen Einsatz ging ich an die Reportage über den sechsfachen Weltmeister im Kampfsport, Sergej Braun. Ich hatte mir einige seiner Kämpfe in Frankfurt angesehen, hatte einst selbst geboxt und freute mich darauf, Fotos beim Training machen zu dürfen. Immer nah ran gehen – das ist eine Regel, die man als Journalist immer im Hinterkopf haben sollte.
Tiefe Einblick hab es beim Interviewer (Bild 1), Das ging unter die Haut: Gespräch mit einem Tätowierer (Bild 2), Brachte nachhaltig Farbe ins Leben: Ein Gespräch mit Sr. Regina OSB (Bild 3), Keine leere Phrase: Tattoo eines Häftlings in der JVa Hünfeld (Bild 4)
Also ging ich nah ran. So nah, dass ich den Ellenbogen eines Profiboxers zu spüren bekam, der auf meine Kamera und damit auf meine Nase krachte. Natürlich ließ ich mir den Schmerz nicht anmerken. Froh darüber, dass die Kamera nicht zu Bruch gegangen war – als freie Reporterin kommt man für diese Dinge selbst auf – hüpfte ich weiter betont ungerührt um die Jungs herum und machte an diesem Tag noch vierhundert weitere Fotos. Ich ging, bevor die blaue Nase auffiel.
An meine Grenzen musste ich bei der Reportage über das Ballonfahren gehen. An einem windigen Morgen wickelte sich die Ballonseide beim Aufrichten des Ballons um einen Laternenpfahl und hatte schließlich vier Löcher, noch bevor wir in den Korb steigen konnten. Die Gesichter der Mitfahrer hatten die Farbe von Grünschimmelkäse angenommen, Notfallbonbons wurden gegen die Angst verteilt. Selten im Leben ist mir ein Schritt so schwergefallen wie der Schritt in diesen durchlöcherten Ballon. Der Wind wurde stärker, in wenigen Minuten waren wir auf 2.500 Meter gestiegen und über den Wolken. Die Morgensonne ergoss ihr Licht über das weiße, flockige Wolkenmeer. Vor Angst war ich so gelähmt, dass ich vergaß, Fotos zu machen.
Grenzerfahrungen machen angeblich stärker. Und manchmal wird man durch sie auch daran erinnert, dass man sterblich ist. So war es anlässlich eines Interviews, das ich mit einer Bestatterin führte. Allerdings war die junge Frau so impulsiv und dem Leben zugewandt, dass es schwerfiel, sie in der Rolle des Totengräbers zu sehen. Inzwischen hat sie einen anderen Job ergriffen. Nichts ist nur das, was es zu sein scheint.
Das gilt auch in der Nachbarschaft. Als „Magazin der Machbarschaft“, wie der SeitenWechsel im Untertitel heißt, flogen wir nicht nur hoch hinauf, sondern wagten uns auch tief auf den Boden, ins Gras, dorthin, wo sich die lärmende Nachbarschaft austobt mit ihren Rasenmähern und Heckenscheren, Laubbläsern und Kreissägen. Sehr naiv schrieb ich mir in diesem Text den Frust über die Nachbarn von der Seele: Wie es ist, mit Ohrenstöpseln am Schreibtisch zu sitzen, während die Nachbarn mit Begeisterung den Freischneider auspacken. Natürlich bleibt ein solcher Text nicht ungestraft.
Er machte mich zu einer fragwürdigen Berühmtheit im Ort, wovon ich während der ersten Wochen selbst gar nichts mitbekam. Dann, eines Abends auf einer einsamen Wanderung, begegnete ich einem Mann. Wir kamen ins Gespräch. „Frau Kerber?“, fragte er schließlich. Ich fand, seine Stimme hätte plötzlich etwas bedrohend Bellendes angenommen. „Etwa vom SEITENWECHSEL?!“ Innerlich schrumpfte ich zusammen. Mir fielen all die Rasenmäher ein, über die ich mich lustig gemacht hatte, die Heckenscheren und peinlich genauen Rasenschnitte, die ich in meinem Übermut mit den Frisuren ihrer Besitzer verglichen hatte. Hier kam meine Quittung. Und ich war ganz allein hier oben mit dem Mann. Doch zu meinem Erstaunen veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er straffte sich und verkündete feierlich: „Sie haben mir aus der Seele gesprochen!“
In diesem Sinne möchte ich mich bedanken für all die wunderbaren Begegnungen, die lustigen, traurigen und aufregenden Momente. Für alle Seitenwechsel in alle möglichen Richtungen. Wagen auch Sie hin und wieder einen Seitenwechsel. Es lohnt sich.
Nah rangehen: für die Fotos vom 5-fachen Weltmeister Sergej Braun gab es eine blaue Nase (Bild 1), Ganz dem Leben zugewandt: die ehemalige Bestatterin Darleen Möller (Bild 2), Hoch hinaus: in einem kaputten Ballon mit fünf Löchern (Bild 3), Ohrenbetäubend: ein Klagelied auf die eifrige Nachbarschaft, das nach hinten losging (Bild 4)